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Der Duft

Titel: Der Duft
Autoren: Aufbau
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dem Gefängnis der Ohnmacht auszubrechen.
     Trotzdem traute sich Marie kaum, ihn anzufassen, so schwach und zerbrechlich wirkte er. Es war ein Anblick, der kaum zu ertragen
     war.
    Noch einmal glitt ihre Hand über den Ansatz seiner wuscheligen Haare, über Schläfe und Wange. Im selben Moment ertönte ein
     glockenartiger Klang von den Kontrollinstrumenten, der sich regelmäßig wiederholte.
    Marie erschrak und zuckte zurück. Die Kurve des Herzschlags, die bisher sehr gleichmäßig gewesen war, wurde unruhig.
    Ein junger Arzt betrat den Raum. »Was ist passiert?«, fragte er.
    »Ich … ich weiß nicht … ich habe ihn nur ganz leicht berührt …«
    Der Arzt betrachtete die Anzeigen. Mit dem Daumen schob er eines von Rafaels Augenlidern hoch. Marie konnte sehen, wie die
     Pupille unruhig hin und her zuckte.
    Der Mediziner gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange. »Herr Grendel, können Sie mich hören? Herr Grendel?«
    Rafaels Augenlider zitterten. Dann schlug er sie auf. Sein Blick glitt unruhig hin und her, als könne er nichts erkennen.
    »Herr Grendel, wenn Sie mich verstehen, dann versuchen Sie bitte, beide Hände zu spreizen.«
    Rafaels Finger öffneten sich. Seine Hand zitterte, doch es gelang ihm, sie ganz zu öffnen und die Finger auseinander zu drücken.
     Er wandte den Kopf leicht in ihre Richtung, und so etwas wie Erkennen schien in seinen Augen |416| aufzuglimmen. Er versuchte, den Kopf anzuheben, und aus seiner Brust kam ein dumpfes Geräusch, als versuche er, zu sprechen.
    »Nicht so schnell, Herr Grendel«, sagte der Arzt. Seine Stimme war eindringlich, aber freundlich. »Sie sind ziemlich schwer
     verletzt. Sie brauchen Ruhe. Strengen Sie sich bitte nicht an. Was immer Sie Ihrer Freundin mitteilen wollen, hat noch Zeit.
     Ich bin sicher, sie bleibt noch eine Weile bei Ihnen.«

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    |417| Epilog
    Der Himmel war klar über Huygensville/Arkansas. Die paar Fadenwolken hoch in der Atmosphäre gaben dem Blau nur noch mehr Tiefe.
     Ein warmer Wind wehte Plakatfetzen und zerknitterte Wahlkampfprospekte über den Town Square.
    Bob Harrisburg hob einen davon auf und betrachtete nachdenklich das strahlende Gesicht von Senator Floyd Brooke. Sein Gesicht
     mit dem rosa Teint, das ihm den Spitznamen »Pink Floyd« eingetragen hatte, wirkte auf dem Foto jugendlich. Der Eindruck eines
     Lausbuben wurde noch verstärkt durch seinen roten Wuschelkopf – ein erwachsener Tom Sawyer. Er hatte beide Hände erhoben und
     reckte sie siegessicher einer Menge von Anhängern entgegen. Hinter ihm, etwas unscharf, wehte die Amerikanische Flagge.
    Brooke hatte als jüngstes Mitglied des US-Repräsentantenhauses eine steile politische Karriere hingelegt. Sein scharfer Verstand,
     sein beißender Sprachwitz und seine joviale, volksnahe Art hatten ihn zu einem der heißesten Kandidaten für die anstehenden
     Vorwahlen für die Präsidentschaftskandidatur gemacht. Ein Außenseiter zwar, aber einer, dem die Kommentatoren das Zeug dazu
     bescheinigt hatten, einen echten Überraschungscoup zu landen und dem Präsidenten ernsthaft gefährlich werden zu können.
    Bis gestern.
    Harrisburg sah sich auf dem Platz um. Sein Blick wanderte über zerbrochene Stühle, umgerissene Stände, an denen Getränke,
     Hotdogs und Brezeln verkauft worden waren, zerborstene Schaufensterscheiben der angrenzenden |418| Geschäfte, die heruntergerissene Dekoration der Bühne, das zertrümmerte Podium. Er schloss die Augen und sah die Fernsehbilder
     vor sich, die seit vielen Stunden ununterbrochen über die Nachrichtensender flimmerten: Menschen, die um sich schlugen, traten
     und bissen, übereinander herfielen. Sicherheitskräfte, die wahllos in die Menge schossen. Und natürlich immer wieder Floyd
     Brooke, sein rot angelaufenes Gesicht zu einer Grimasse des Hasses verzerrt, wie er mit dem Mikrofonständer eine schwangere
     Frau niederschlug – eine Frau, die sich trotz ihrer in wenigen Wochen bevorstehenden Geburt bis zuletzt als Wahlkampfhelferin
     für ihn eingesetzt hatte.
    Es war seltsam, wie still es war. Keine Reporter mehr, keine Schaulustigen. Die Polizeibeamten, die den Platz absperrten,
     waren eigentlich überflüssig. Die kleine Stadt stand unter Schock, wie die ganze Nation. Die Bewohner hatten sich in ihre
     Häuser verzogen, hielten Türen und Fenster verschlossen, als könnten sie so das Böse fernhalten, das ihren beschaulichen Ort
     heimgesucht hatte.
    42 Tote. 117 Verletzte. Sachschaden in Millionenhöhe und ein
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