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Der Duft des Anderen

Der Duft des Anderen

Titel: Der Duft des Anderen
Autoren: Jutta Ahrens
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nicht früher darauf gekommen? Sie war ein schwuler Mann. Und wenn sie eine Chance hatte, als Mann zu leben, dann dort: in Schwulencafés, in Schwulenbars. Wenn sie sich zu diesem Ambiente Szenen vorstellte, war alles perfekt.
    Einen Hauch, wie es sich anfühlte, hatte sie gestern verspürt. Sie hatte den Schritt hundertmal in Gedanken durchlebt und endlich gewagt. Niemand hatte etwas bemerkt. Die neugierigen Blicke, Getuschel, verstohlenes Lächeln hatten die Illusion vollkommen gemacht, und als Künstlerin wusste Barbara, dass Illusion und Wirklichkeit nur zwei Seiten derselben Münze waren.
    Der Kaffee war fertig. Cruda, funesta smania – sie sang die Arie mit. Fast alle Männerarien kannte sie auswendig. Sie schmetterte das è troppo, è troppo horribile heraus, während sie die volle Kaffeetasse zurück zu der großen Tischplatte balancierte. Vielleicht hörten die Nachbarn sie nebenan im Garten? Das war ihr egal. Ihre Altstimme konnte sich hören lassen, leider wurde sie nie so kräftig wie ein Bariton. Leider würde sie niemals den Rigoletto verkörpern können oder den Rodrigo aus Don Carlos.
    Sie prüfte ihre Pinsel mit den Fingerspitzen, sortierte die mit den feinen Enden aus. Einige sahen schon recht zerzaust aus, die legte sie beiseite für die groben Arbeiten und die Flächen. Dann bereitete sie die Palette vor. Sorgfältig und nach Farben geordnet, drückte sie aus den Tuben kleine Farbkleckse auf den Rand der Palette. Dann zog sie das Tuch von dem Bild, an dem sie weiterarbeiten wollte. Das Bild war von hellen, roten Farbspritzern übersät, unten sammelten sie sich in einer dunkelroten Pfütze aus Krapplack. Der weiße, nackte Männerkörper bog sich anmutig im Fallen, über ihm in einem blauen Licht sein Henker, nackt über sein Opfer gebreitet, als wolle er ihn im Fallen decken, der Kopf noch unfertig. Barbara verband männliche Schönheit stets mit Gewalt, als sei eins ohne das andere nicht denkbar. Schönheit herrschte machtvoll, unterwarf, konnte demütigen und vernichten.
    Sie betrachtete das halb fertige Bild eine Weile, nickte ihm dann zu, schlürfte einen Schluck heißen Kaffee und tauchte ihren Pinsel in gebranntes Umbra, um die Linien des Kopfes und das Haar zu skizzieren. Sie starrte auf die Leinwand, wo sich unter ihrer Hand mehr und mehr ein edel geschnittenes Gesicht formte, dunkle, glühende Augen, wehendes, schwarzes Haar. Das Gesicht des Henkers nahm ihre eigenen Züge an. Barbara vergaß das Mitsingen. Der zynische Zug um die Mundwinkel verlangte Konzentration. Der Mann musste so lebendig werden, wie er in ihr lebte, sonst war das ganze Bild missraten. Natürlich war es unverkäuflich. Niemals würde sie ein Selbstbildnis verkaufen.
    Barbara war mit der Skizze des Kopfes zufrieden. Wenn der Entwurf stimmte, war die Ausführung einfach. Jetzt erst legte sie den Pinsel zur Seite, griff zur Kaffeetasse und merkte, dass ihre Finger steif und der Kaffee kalt geworden waren. Sie wischte sich mit verschmierten Fingern den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. Einen stolzen Blick warf sie auf den Männerkopf, dann irrte ihr Blick zu ihrem Spiegelbild an der Decke. Sie erblickte ein verschwitztes, verschmiertes Gesicht, das unter Schweiß und Farbe immer noch schön war. Vergebliche Schönheit!
    Heftig wandte sie sich ab, ein herber Zug legte sich um ihre Mundwinkel. Würde das hier ihre Welt sein auf ewig? Eine Bodenkammer, berstend von tausend Sehnsüchten, stinkend nach Terpentin, angefüllt mit Bildern, jedes Bild ein Triumph, jedes Bild ein Beweis ihres Versagens?

5
    Robert Grünwaldt, Rechtsanwalt und Galeriebesitzer, klingelte um elf, obwohl er es hätte besser wissen müssen. Barbara war gerade erst aufgestanden. »Was willst du denn in aller Frühe hier?«, empfing sie ihn, angetan mit Pantoffeln und Morgenmantel, das ungekämmte Haar rasch mit zweckmäßigem Gummiband im Nacken festgehalten. Barbara besaß eine Menge Gummibänder, sie lagen überall herum, um jederzeit griffbereit zu sein.
    Robert fand Barbara trotzdem bezaubernd. »Es ist schon halb zwölf«, versuchte er sich herauszureden.
    »Ist es nicht, es ist genau fünf vor elf. Komm rein. Ich mache Kaffee.« Barbara ging voran. Sie wies auf die Couch mit dem großen Blumenmuster, dem einzigen Möbelstück in ihrem Wohnzimmer, das leidlich feminin aussah. Es war eine Aufforderung an Robert, sich hinzusetzen. Ihre Armbewegung schloss mit ein, dass er die Sachen, die darauf lagen, einfach zur Seite werfen
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