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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Henning Mankell
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mit San begonnen hatte, ihren Schlusspunkt finden. Ya Ru schüttete das Pulver vorsichtig zurück in den Seidenbeutel und band ihn zu. Dann löschte er alle Lichter im Zimmer bis auf eine Lampe mit rotem Schirm und einem Drachenmuster aus gesticktem Gold. Er setzte sich auf einen Stuhl, der einst einem reichen Gutsbesitzer in der Shangtunregion gehört hatte. Er atmete langsam und versank in den Zustand von Ruhe, in dem er am besten denken konnte.
     
    Er benötigte eine Stunde, um sich darüber klar zu werden, wie er dieses letzte Kapitel schreiben würde, indem er Birgitta Roslin tötete, die mit hoher Wahrscheinlichkeit seiner Schwester Hong Geheimnisse anvertraut hatte, die ihm schaden konnten. Geheimnisse, die sie hatte weitergeben können, ohne dass er wusste, an wen. Nachdem er seinen Beschluss gefasst hatte, betätigte er eine Klingel auf dem Tisch. Einige Minuten später hörte er, wie die alte Lang in der Küche sein Abendessen zuzubereiten begann.
     
    Lang hatte einst in seinem Büro in Peking geputzt. Viele Nächte lang hatte er ihre stummen Bewegungen betrachtet. Sie putzte besser als irgendeine andere der Frauen, die das Haus mit den vielen Stockwerken sauber machten. Eines Nachts hatte er sie gefragt, wie sie lebe. Als er hörte, dass sie neben ihrer Arbeit als Putzfrau noch traditionelle Festessen für Hochzeiten und Begräbniszeremonien zubereitete, bat er sie, ihm am nächsten Abend eine Mahlzeit zu kochen. Danach hatte er sie als Köchin angestellt und ihr einen Lohn gegeben, von dem sie in ihrem ganzen Leben bis dahin nicht einmal hätte träumen können. Weil ihr Sohn nach London ausgewandert war, hatte er sie nach Europa geschickt, damit sie für ihn kochte, wenn er auf seinen vielen Reisen dort war.
     
    An diesem Abend servierte Lang ihm eine Reihe kleinerer Gerichte. Ohne dass Ya Ru etwas gesagt hätte, wusste sie, was er wünschte. Sie stellte den Tee auf ein brennendes Rechaud im Wohnzimmer.
     
    »Frühstück morgen?« fragte sie, bevor sie ging.
     
    »Nein. Ich mache es selbst. Aber Abendessen, Fisch.« Ya Ru ging früh zu Bett. Nachdem er von Peking abgereist war, hatte er nicht viele Stunden zusammenhängenden Schlafs gehabt. Die Reise nach Europa, dann die komplizierten Verbindungen zu der Stadt im Norden Schwedens, danach wieder der Besuch in Helsingborg, wo er in Birgitta Roslins Haus gewesen war und auf einem Zettel neben dem Telefon das mit energischen Buchstaben auf einen Merkzettel geschriebene Wort »London« gefunden hatte. Nach Stockholm war er in seiner eigenen Maschine geflogen. Dann beauftragte er die Piloten, unverzüglich die Fluggenehmigung nach Kopenhagen zu beantragen und von dort nach England weiterzufliegen. Er hatte vermutet, dass Birgitta Roslin in London Ho besuchen wollte. Tatsächlich hatte er sie dort kommen sehen und beobachtet, wie sie vor der Haustür zögerte und sich dann ins Cafe auf der anderen Straßenseite setzte. Er schrieb ein paar Notizen in sein Tagebuch, löschte das Licht und war kurz danach eingeschlafen. Am nächsten Tag lag eine schwere Wolkendecke über London. Ya Ru stand wie gewöhnlich um fünf Uhr auf und hörte auf der Kurzwelle des Radios die chinesischen Nachrichten. In seinem Computer informierte er sich über die Börsenbewegungen weltweit, führte Gespräche mit zwei seiner Direktoren über laufende Projekte und bereitete sich anschließend ein einfaches Frühstück zu, das hauptsächlich aus Obst bestand.
     
    Um sieben Uhr verließ er mit dem Seidenbeutel in der Tasche die Wohnung. In seinem Plan gab es ein Unsicherheitsmoment. Er wusste nicht, um welche Zeit Birgitta Roslin frühstückte. Wenn sie bei seiner Ankunft im Hotel bereits gefrühstückt hatte, musste er alles auf den folgenden Tag verschieben.
     
    Er ging zum Trafalgar Square, blieb eine Weile stehen und hörte einem Cellisten zu, der auf dem Gehsteig spielte. Er warf ihm ein paar Münzen in den Hut und ging weiter. Er bog in die Irving Street ein und gelangte zum Hotel. An der Rezeption stand heute ein Mann, den er noch nicht gesehen hatte. Er trat an den Tresen und nahm sich eine Visitenkarte des Hotels. Dabei sah er, dass der weiße Bogen nicht mehr in ihrem Fach steckte.
     
    Die Tür zum Frühstücksraum stand offen. Er entdeckte Birgitta Roslin sofort. Sie saß an einem Fenstertisch und hatte anscheinend gerade erst angefangen zu frühstücken, weil ihr eben Kaffee gebracht wurde.
     
    Ya Ru hielt den Atem an und überlegte. Dann beschloss er, nicht zu warten.
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