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Der Chancellor

Titel: Der Chancellor
Autoren: Jules Verne
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das Aufsteigen des Nebelsmit erklärlicher Spannung, nicht deshalb, weil ich mir schmeichelte, dann vielleicht Land zu erblicken, sondern weil es mich drängt, den absurden Gedanken, den eine unerfüllbare Hoffnung mir vorspiegeln wollte, schnell los zu werden.
    Erst gegen elf Uhr beginnt der Dunst sich zu zerstreuen, und während seine dichten Wolken über die Oberfläche des Wassers gleiten, sehe ich an manchen Stellen durch dieselben den Himmel hindurchschimmern. Glänzende Strahlen dringen bis zu uns nieder und treffen uns wie weißglühende, metallene Pfeile. Doch die Condensation der Dünste vollzieht sich in den oberen Schichten, und noch kann ich den Horizont nicht wahrnehmen.
    Eine halbe Stunde lang umhüllen diese Nebel das Floß und zertheilen sich bei der absoluten Windstille nur sehr schwierig.
    Robert Kurtis, der sich auf die Schanzkleidung der Plateform stützt, sucht diesen dicken Nebelvorhang mit den Augen zu durchdringen.
    Endlich glänzt die Sonne mit ihrer vollen Pracht über die Oberfläche des Oceans; der Nebel weicht zurück, ein großer Kreis um uns wird sichtbar und der Horizont erscheint...
    Doch, es ist derselbe Horizont, wie seit sechs vollen Wochen... Eine ununterbrochene runde Linie, in der Himmel und Wasser in einander übergehen!
    Nachdem Robert Kurtis sich überall umgesehen hat, verharrt er in tiefem Schweigen. Ach, ich bedaure ihn wirklich, denn von uns Allen ist er der Einzige, der nicht das Recht hat, zu endigen, wann es ihm beliebt. Ich, ich werde morgen sterben, und wenn der Tod nicht kommt, mich abzulösen, so werde ich ihm entgegengehen. Was meine Gefährten betrifftso weiß ich gar nicht, ob sie noch am Leben sind, und es scheint mir, als wären viele, viele Tage verflossen, seit ich sie zum letzten Male gesehen habe.
    Die Nacht ist gekommen, doch habe ich keinen Augenblick schlafen können. Gegen zwei Uhr quälte mich der Durst so furchtbar, daß ich laut aufschreien mußte. Wie? Vor dem Tode sollte ich nicht noch einmal die Wollust genießen, das Feuer zu löschen, das meine Brust verzehrt?
    Und doch! Ich werde mein eigenes Blut trinken, wenn ich das der Anderen nicht habe. Das wird mir zwar nichts nützen, ich weiß es, doch ich werde mein Leiden betrügen!
    Kaum ist dieser Gedanke in mir aufgestiegen, so schreite ich auch schon zu seiner Ausführung. Es gelingt mir, mein Messer zu öffnen. Mein Arm ist entblößt, und mit raschem Stoße zerschneide ich eine Vene. Nur tropfenweise quillt das Blut heraus, und so stille ich meinen Durst an der eigenen Quelle alles Lebens! Dieses Blut kehrt ja wieder in mich zurück, und ich besänftige einen Augenblick meine wilden Schmerzen. Dann stockt es ganz; ihm fehlt die Kraft, zu fließen!
    Wie lange dauert es doch, bis jenes morgen kommen will!
    Wiederum hat sich am Horizont ein dicker Nebel angehäuft, der den Gesichtskreis, dessen Mittelpunkt das Floß einnimmt, beschränkt; aber dieser Nebel ist glühend, wie die Wolken, die aus einem Schmelzofen ausströmen.
    Das ist heute der letzte Tag meines Lebens.
    Bevor ich sterbe, würde ich glücklich sein, die Hand meines Freundes zu drücken. Robert Kurtis ist da, nicht weit von mir. Ich schleppe mich zu ihmhin und ergreife seine Hand. Er versteht mich, er weiß, daß das ein Abschied ist, doch es hat den Anschein, als wolle er mich durch einen letzten Gedanken an Hoffnung zurückzuhalten suchen! Das ist vergebens.
    Ich hätte auch die Herren Letourneur, Miß Hervey gern noch einmal gesehen ... Ich wage es nicht! Das junge Mädchen würde meinen Entschluß mir aus den Augen lesen! Sie würde mir von Gott sprechen, und von dem anderen Leben, das man ergeben erwarten solle! Erwarten! Gott sei mir gnädig, aber ich habe den Muth dazu nicht mehr.
    Ich krieche auf dem Flosse hin, und mit der letzten Kraftanstrengung gelingt es mir, mich am Maste aufzurichten. Zum letzten Male lasse ich meine Augen über dieses unerbittliche Meer hinweg schweifen und über den Horizont, der sich nie und nimmer verändert. Wenn mir jetzt ein Land erschiene, oder ein Segel sich über den Wellen erhöbe, so würde ich glauben, der Spielball einer Illusion zu sein ... doch, das Meer ist öde und verlassen!
    Es ist jetzt zehn Uhr Morgens. Der Augenblick, meinen Qualen ein Ende zu machen, ist gekommen. Das Zerren des Hungers und das Stacheln des Durstes zerreißt mich mit erneuter Heftigkeit und der Trieb der Selbsterhaltung erlischt in mir. In einem Augenblicke habe ich aufgehört zu leiden! Gott erbarme sich
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