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Der Chancellor

Titel: Der Chancellor
Autoren: Jules Verne
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Herbey angegriffen ist, vermag ich gar nicht zu schildern. Sie ist nur noch ein Geist, aber ein wachsamer Geist, der ganz und gar in ihren Augen zuwohnen scheint, welche ganz außerordentlich leuchten. Sie lebt mehr im Himmel, als auf der Erde!
    Auch der Hochbootsmann, der sonst eine so große Energie zeigte, ist doch jetzt vollkommen erschlafft. Man erkennt ihn nicht mehr. Sein Kopf sinkt ihm auf die Brust, seine langen, knochigen Arme hängen schlotternd herab, und spitzig treten die Knieschneiben unter seinen abgenutzten Beinkleidern hervor, – so sitzt er unbeweglich in einem Winkel des Flosses und erhebt kaum seine Augen. Wie unähnlich ist er der Miß Herbey, er, der nur in und mit dem Körper lebt, und dessen Bewegungslosigkeit eine so vollkommene ist, daß ich manchmal auf den Gedanken komme, er sei schon gestorben.
    Kein Wort, keinen Seufzer mehr hört man auf dem Flosse. Rings herrscht Grabesruhe. Nicht zehn Sylben werden den Tag über gewechselt, und die wenigen Worte, die unsere vertrockneten und verhärteten Lippen hätten aussprechen können, wären nicht einmal zu verstehen gewesen. Das Floß trägt nur noch blasse, blutlose Gespenster, die nichts Menschliches mehr an sich haben!

LI.
    Am 24. Januar.
    – Wo sind wir? Nach welchem Theile Amerikas zu wurden wir verschlagen? Zweimal habe ich Robert Kurtis darüber gefragt, doch vermochte er mir keine bestimmte Antwort darauf zu geben. Da er jedoch die Richtung der Strömungen und der Winde immer aufgezeichnet hat, soglaubt er, daß wir im Ganzen weiter nach Westen, also nach dem Lande zu, getrieben seien.
    Heute zeigt die Luft gar keine Bewegung, und dennoch verräth die hohlgehende See, daß im Osten das Wasser aufgeregt worden ist. Jedenfalls wird ein Sturm über jene Theile des Atlantischen Oceans hinweg gebraust sein. Das Floß arbeitet schwer, und Robert Kurtis, Falsten und der Zimmermann setzen ihre letzten Kräfte daran, seine Theile, die sich zu lockern drohen, sicherer zu befestigen.
    Warum bemühen sie sich noch damit? Möchten diese Planken doch endlich auseinander weichen und der Ocean uns verschlingen! Es ist zu viel, ihm unser elendes Leben noch abringen zu wollen.
    In Wahrheit haben unsere Qualen den höchsten Grad erreicht, den Menschen wohl zu ertragen vermögen, und unmöglich können sie noch über diesen hinausgehen! Die Hitze ist ganz unausstehlich, der Himmel gießt geschmolzenes Blei über uns aus. Der Schweiß läuft durch unsere Lumpen, und diese Transpiration erhöht noch unseren Durst. Nein, ich kann es nicht wiedergeben, was ich empfinde. Die Worte gehen aus, wenn es gilt, übermenschliche Qualen zu schildern.
    Die einzige Möglichkeit, durch welche wir uns früher einige Erquickung zu verschaffen vermochten, ist uns jetzt ebenfalls abgeschnitten. Niemand kann mehr daran denken, sich zu baden, denn seit Jynxtrop's Tode umringen uns die Haifische in ganzen Schaaren.
    Heute habe ich versucht, mir etwas trinkbares Wasser zu verschaffen, indem ich Meerwasser verdunstete. Doch trotz der größten Geduld gelang es mir kaum, ein Stück Leinenzeug anzufeuchten. Außerdemwiderstand der sehr abgenutzte Siedekessel dem Feuer nicht mehr, schmolz zusammen, und ich war genöthigt, die Operation einzustellen.
    Der Ingenieur Falsten ist jetzt ebenfalls ganz gebrochen und wird uns höchstens um einige Tage überleben. Wenn ich die Augen einmal aufschlage, sehe ich ihn kaum mehr. Liegt er irgendwo unter Segeln, oder ist er todt? Nur der energische Kapitän Kurtis steht auf dem Vordertheile und lugt in's Weite. Wenn man sich vorstellt, daß dieser Mann ... noch Hoffnung hat!
    Ich selbst strecke mich auf dem Boden aus und erwarte den Tod. Je eher er kommt, desto willkommener soll er mir sein!
    Wie viele Stunden mir in dieser Weise verflossen sind ... ich weiß es nicht, doch ich höre ein gellendes Gelächter, einer von uns muß wahnsinnig geworden sein!
    Das Lachen verdoppelt sich. Ich erhebe den Kopf gar nicht. Wozu auch? Einige unzusammenhängende Worte erreichen dennoch mein Ohr.
    »Eine Wiese! Eine Wiese! Grüne Bäume! Eine Schenke unter den Bäumen! Schnell, schnell! Branntwein her! Gin! Wasser! Eine Guinee für den Tropfen! Ich bezahl' es! Ich habe Gold, viel Gold!«
    Armer Verblendeter! Für alle Reichthümer Alt-Englands könntest Du jetzt keinen Tropfen Wasser erkaufen.
    Der Matrose Flaypol ist es, der von Delirien erfaßt, ausruft:
    »Land! Da ist das Land!«
    Dieses Wort hätte bei uns auch Todte erweckt. Ich mache eine schmerzliche
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