Der blinde Hellseher
hatte sich endlich zu ihnen bequemt. Fragend, aber ohne große
Freundlichkeit, sah er sie an.
„Ich kriege römische Torte“,
sagte Klößchen rasch.
„Und dreimal Cola“, bestellte
Tarzan.
Mario Frasketti nickte knapp
und ging zur Theke.
„Der hat uns angeguckt“, flüsterte
Klößchen, „als ob er wüßte, weshalb wir hier sind.“
„Ihr könnt sagen, was ihr
wollt“, wisperte Gaby. „Er sieht aus wie der typische Kidnapper.“
„Klar“, sagte Tarzan ironisch.
„Stechende Augen. Pockige Haut. Das haben die alle. Wenn... Au!“
Grinsend griff er unter den
Tisch und rieb sich das Schienbein.
„Du hast einen Tritt wie Franz
Beckenbauer, Gaby. Nur daß der nicht auf Schienbeine zielt.“
Gaby funkelte ihn an, und
Tarzan fragte sich, weshalb sie heute so dünnhäutig war. Aber Mädchen haben das
bisweilen an sich. Am besten ist, dachte er, man bemerkt es gar nicht.
Mario brachte Cola
und Torte.
Der Italiener war ein hagerer
Typ, schwarzhaarig und mit niedriger Stirn. Er trug fast immer dunkle Hosen und
ein rosafarbenes Seidenhemd. Und um das rechte Handgelenk eine Goldkette — fast
so dick wie ein Tau.
Als er wieder in der Küche
verschwunden war, sagte Tarzan: „Eigentlich paßt alles zusammen. Mario kennt
Volker. Bestimmt weiß er, daß die Krauses sehr reich sind. Volkers Vater baut
mindestens jedes zweite Haus, das irgendwo in der Stadt entsteht. Und um Volker
zu verstecken, ist es hier ideal.“
„Wo?“ fragte Klößchen
begriffsstutzig. „Hier im Restaurant?“
Strafend sah Tarzan ihn an.
„Ich denke an die Vorratsräume und den Keller im Hof.“
„Klar!“ Karl nickte. „Wenn sie
Volker fesseln, knebeln und ihm die Augen verbinden, können sie ihn dort
wochenlang einschließen. Mario hat sicherlich Helfer. Vielleicht ist er
Mitglied der Mafia.“
„Spekulieren führt zu nichts“,
sagte Tarzan. „Wir sehen nach!“
„Im Hof?“
„Wo sonst?“
„Jetzt gleich?“ fragte
Klößchen.
„Deine Torte kannst du vorher
aufessen. Und du wolltest ja nur ein Stück.“
„Fällt das nicht auf, wenn wir
zu viert auf den Hof gehen?“ fragte Gaby ängstlich.
„Ich gehe. Ihr bleibt bei den Rädern“,
bestimmte Tarzan. „Oskar nehme ich mit. Dann sieht’s aus, als wäre er wiedermal
abgehauen und bei den Küchenabfällen. Okay?“
Die drei nickten.
6. Der arme Lupo
Die Sonne war verschwunden. Man
merkte, daß es Herbst war. Die Tage wurden kürzer. Um jede Ecke blies kühler
Wind. Tarzan sah auf seine Armbanduhr, als sie aus der TRATTORIA kamen. Es war
noch nicht spät.
Gaby fröstelte. Sie hatte ihren
Poncho unterm Arm. Tarzan mußte Oskar halten, und Gaby zog den Poncho an, was
ziemlich einfach war. Sie brauchte nur den Kopf durch die Öffnung zu stecken.
Notfalls hätte sie das mit einer Hand gekonnt und mit der anderen Oskar
gehalten.
Sie gingen die paar Schritte
bis zur Einfahrt, wo die Räder an der Wand lehnten. Tarzan bückte sich und
machte Oskar von der Leine los.
„Da! Lauf!“ Er schob ihn zur
Einfahrt. Aber Oskar stand wie ein Sägebock, verrenkte sich fast das Genick, um
Tarzan anzusehen, und wedelte heftig.
Tarzan hob ein Stöckchen auf
und schleuderte es auf den Hof. Oskar startete. Aber er verfehlte das
Stöckchen, bog nach links hinter die Mauer und war verschwunden.
Im nächsten Moment hörte man
wütendes Bellen. Das klang nach einem großen Hund. Augenblicklich hechtete
Tarzan in die Einfahrt. Die andern folgten ihm.
Der Hof, von den Rückfronten
dunkler Gebäude abgegrenzt, war düster. Die TRATTORIA lud hier ihr Gerümpel ab.
Es roch wie auf einer Müllhalde.
Ob das der Küche guttat?
Sie lag zum Hof. Ihre Fenster
waren erleuchtet. Die Kinder konnten hineinsehen.
Eine Hintertür führte zum Hof.
Daneben stand eine Hundehütte. Daß sie selbst gezimmert war, sah man sofort.
Und es war kein Fachmann gewesen.
Für einen Dackel hätte die
winzige Behausung gereicht. Aber der Hund, der jetzt mit gesträubtem Nackenhaar
und gebleckten Zähnen davor stand, hatte die Größe eines Schäferhundes.
Wütend zerrte er an seiner
Eisenkette. Lang war sie nicht. Der Hund konnte höchstens drei Schritte machen.
Aber dick war sie — und ganz bestimmt schwer.
Der Hund — ein Mischling — hatte
kleine Ohren, eine spitze Schnauze und gelbliches Fell. Ein bißchen erinnerte
er an einen Wolf. An einen armseligen Wolf, der seit Monaten nichts mehr
gefressen hat.
Mager war er, wie ein Skelett.
Fast, daß die Knochen durchs Fell spießten. Und links am
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