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Der Architekt

Der Architekt

Titel: Der Architekt
Autoren: Jonas Winner
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feinen Strich bildeten, von dessen Enden fast ebenso gerade Kerben bis zu den Nasenflügeln hinaufführten.
    Mia nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und schnippte die Kippe über das Geländer. Der Stummel segelte in die Tiefe und prallte gegen die Balustrade eines Balkons vier Stockwerke unter ihr. Ein paar Funken wurden aus dem noch glühenden Rest herausgeschlagen, dann verschwand der leuchtende Punkt aus ihrem Blickfeld.
    Das satte Geräusch eines Motors hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Tief unten auf der Straße jagte ein Rudel Kinder einem Ball hinterher. Ein Wagen hielt am Eingang des Hochhauses, die hintere Tür auf der Beifahrerseite sprang auf, ein langes Bein in engen Jeans kam zum Vorschein.
    ›Da sind sie.‹ Mia spürte, wie ihr Herz einen Augenblick aus dem Takt zu geraten schien. War es Angst? Aufregung? Sie stellte sich auf Zehenspitzen und starrte in die Tiefe.
    »Miaaa!« Dunja stand unten und winkte. Sie hatte eine Hand über die Augen gelegt, um sie vor dem Licht des gleißenden Himmels zu schützen. Ihre Haare glänzten in der Sonne.
    Mia winkte zurück. Sie wollte ihrer Freundin etwas zurufen, ließ es dann aber doch bleiben. Sie hätte nur ihre Mutter geweckt.
    Hastig zog Mia den Kopf zurück, drehte sich auf dem Absatz um. Starrte ihre Mutter sie an? Schwer lag der Kopf der Frau auf dem geblümten Plastikstoff des Liegestuhls, unter den geschlossenen Lidern bewegten sich ruhelos die Augäpfel.
    ›Tschüs Mama‹, dachte Mia. Im nächsten Moment war sie durch die offen stehende Glastür ins Innere des Apartments geschlüpft.
    ›Es geht los‹, raste es in ihrem Kopf, vor Aufregung zappelten ihre Beine. Als sie die Wohnung verließ, schlug sie die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu. Scheppernd dröhnte das endlose Treppenhaus.
    ›Jetzt ist sie doch aufgewacht‹, fuhr es Mia durch den Kopf, und sie sah ihre Mutter vor sich, die im Liegestuhl hochschreckte.
    »Bis später, Mama«, flüsterte sie, dann rannte sie die Treppe hinab.

8
    Es war eine Art schwarze Bluse. Aber warum glänzend, warum ohne Knöpfe? Ungeduldig riss Mia die übrigen Kleidungsstücke herunter, die Dunja von außen über die Tür der Kabine geworfen hatte, und warf sie zusammen mit der Bluse auf einen kleinen Hocker, mit dem sie sich den ohnehin äußerst beschränkten Platz in der Umkleidekabine teilen musste.
    Sie waren nach Berlin gefahren. »Du musst dir was zum Anziehen besorgen«, hatte Dunja gesagt. Und darauf gedrängt, dass sie den Laden hier aufsuchten.
    Mia zog ein orangefarbenes Top aus dem Kleiderknäuel hervor. Schon besser. Sie streifte die Jeans, die sie trug, über die Hüften und schlüpfte in ein Paar schwarze Capri-Hosen, die Dunja ihr ebenfalls hereingereicht hatte. Dann das Top. Als sie die Arme durch die Ärmel stieß, schlug ihre Hand gegen den Haken an der Wand. Sie kniff die Lippen zusammen, der Schmerz verebbte. Scheiß Kabine. Sie hasste diese Enge. Und es waren nicht nur die vier Wände, die sie beengten, es waren auch die Kleidungsstücke, die Dunja herausgesucht hatte. Sie kniffen unter den Armen, pressten ihre Beine zusammen, zwängten den Hals ein.
    Mia stieß die Kabinentür auf und trat ins Freie. Holte Luft. Dunja war nicht zu sehen, sie suchte wahrscheinlich noch andere Stücke heraus. Mia sah sich um und bemerkte einen schlaksigen jungen Mann, der an einem Kleiderständer ein paar Schritte entfernt stand. Er senkte den Blick.
    »Dunja?«
    Mia ging etwas unsicher in die andere Richtung, weg von dem Mann. Was für eine blöde Idee, hier diese Sachen kaufen zu wollen. Endlich einmal war sie in Berlin, und da musste sie sich ausgerechnet in eine Umziehkabine klemmen!
    »Hier!« Hinter einer Säule kam Dunja hervor. »Probier die mal an.«
    Mias Blick fiel auf etwas, das aussah wie zwei lackierte Messer.
    »Meinst du?«
    Dunja lachte und kniete sich auf den Boden, stellte die Schuhe vor Mias Füße. »Komm!«
    Vorsichtig hob Mia den rechten Fuß, wollte ihn schon in den Schuh zwängen, merkte aber, dass sie ihn noch schräger stellen musste, als sie zunächst vermutet hatte. Sie stand praktisch schon auf Zehenspitzen – dann ging es. Wie in eine Passform glitt ihr Fuß in das harte Leder, das sich eng um ihre Ferse schloss.
    Mia stützte sich an der Säule ab, angelte mit dem anderen Fuß nach dem zweiten Schuh, schob die Zehen vorsichtig in die langgezogene Öffnung. Es war, als würde sich eine Faust um ihren Fuß schließen. Sie schwankte ein wenig.
    »Okay?«
    Dunja
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