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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag
Autoren: Stephen King
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nie gefasst worden.« Er ergriff meine Hand. »Mister … mein Sohn … Jake … das ist verrückt, aber … haben Sie meinen Vater erschossen?«
    »Nein, natürlich nicht.« Ich nahm das Foto und hängte es wieder an die Wand. »Ich bin erst 1971 auf die Welt gekommen, schon vergessen?«
    5
    Ich ging langsam die Main Street entlang, zurück zu der abgebrannten Weberei und dem aufgegebenen Quik-Flash-Supermarkt vor ihr. Ich ging mit gesenktem Kopf, ohne nach Keine Nase und Blanker Hintern und den Rest dieser fröhlichen Schar Ausschau zu halten. Falls sie noch irgendwo in der Nähe waren, würden sie einen weiten Bogen um mich machen, davon war ich überzeugt. Sie hielten mich für verrückt. Vielleicht war ich das ja auch.
    Wir sind hier alle verrückt, hatte die Grinsekatze zu Alice gesagt. Dann war sie verschwunden. Das heißt, bis auf ihr Grinsen. Soweit ich mich erinnere, blieb es noch eine Weile zurück.
    Ich verstand jetzt mehr. Natürlich nicht alles. Ich bezweifle sogar, dass die Kartenmänner alles verstehen (und sobald sie einige Zeit Dienst getan haben, verstehen sie fast nichts mehr), aber auch das half mir nicht bei der Entscheidung, die ich zu treffen hatte.
    Als ich mich unter der Kette hindurchbückte, detonierte in weiter Ferne etwas. Ich zuckte nicht einmal zusammen. Vermutlich gab es jetzt viele Detonationen. Wenn die Menschen erst einmal anfingen, die Hoffnung zu verlieren, kam es schon fast zwangsläufig zu Detonationen.
    Ich betrat die Toilette hinter dem kleinen Supermarkt und wäre beinahe über meine Lammfelljacke gestolpert. Ich beförderte sie mit einem Tritt zur Seite – an meinem Zielort würde ich sie nicht brauchen – und ging langsam zu den aufgestapelten Kartons hinüber, die Lees Scharfschützennest so ähnlich sahen.
    Gottverdammte Harmonien.
    Ich schob so viele Kartons beiseite, dass ich in die Ecke gelan gen konnte, und stapelte sie sorgfältig wieder hinter mir auf. Dann bewegte ich mich mit kleinen Schritten vorwärts und stellte mir dabei wieder einmal vor, wie man bei völliger Dunkelheit nach der obersten Stufe einer Treppe tastete. Aber es gab keine Stufe, nur diese eigenartige Verdopplung. Ich ging langsam weiter, sah meine untere Körperhälfte schimmern und schloss dann die Augen.
    Noch ein Schritt. Und noch einer. Jetzt spürte ich Wärme an den Beinen. Nach zwei weiteren Schritten färbte Sonnenlicht die Schwärze hinter meinen Lidern rot. Ich machte einen weiteren Schritt und hörte den vertrauten leisen Knall in meinem Kopf. Als er verklungen war, hörte ich das schat- USCH -schat- USCH der gewaltigen Webstühle.
    Ich öffnete die Augen. Der Gestank der schmutzigen ehemaligen Toilette war durch den Gestank einer Weberei ersetzt wor den, die in einem Jahr, in dem es die Umweltschutzbehörde noch nicht gab, auf Hochtouren arbeitete. Unter den Füßen hatte ich rissigen Beton statt sich ablösendes, graues Linoleum. Zu meiner Linken standen die mit Planen aus Sackleinen abgedeckten riesigen Stahlbehälter mit Produktionsabfällen. Zur Rechten hatte ich den Trockenschuppen. Es war 11.58 Uhr am 9. September 1958. Harry Dunning war wieder ein kleiner Junge. Carolyn Poulin saß in der Lisbon High School in der fünften Stunde, hörte vielleicht der Lehrerin zu oder träumte vielleicht von einem Jungen oder davon, wie sie in ein paar Monaten mit ihrem Vater auf die Jagd gehen würde. Sadie Dunhill, die noch nicht mit Mr. Besenstiel verheiratet war, lebte in Georgia. Lee Harvey Oswald war mit seiner Einheit vom Marine Corps im Südchinesischen Meer. Und John F. Kennedy war der Juniorsenator aus Massachusetts, der davon träumte, Präsident zu werden.
    Ich war zurück.
    6
    Ich ging zur Kette und duckte mich unter ihr hindurch. Auf der anderen Seite blieb ich einen Augenblick lang unbeweglich stehen, während ich mir vorstellte, wie ich mich verhalten würde. Dann ging ich weiter bis zum Ende des Trockenschuppens. Gleich hinter der Ecke lehnte der Grüne-Karte-Mann an der Außenwand. Nur war Zack Langs Karte nicht länger grün. Sie hatte eine schlammige Ockerfärbung irgendwo zwischen Grün und Gelb angenommen. Sein nicht zur Jahreszeit passender Mantel war staubig, sein ehemals flotter Filzhut wirkte zerbeult, irgendwie besiegt. Seine zuvor glatt rasierten Wangen waren jetzt stoppelbärtig … und manche dieser Bartstoppeln waren weiß. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er hatte noch nicht zu trinken angefangen – zumindest roch ich keine Fahne –, aber ich vermutete,
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