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Der andere Tod

Der andere Tod

Titel: Der andere Tod
Autoren: A Jonuleit
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für den gleichen Zeitraum zwei Pässe gehabt hatte. Ich wusste, dass es Geschäftsleute gab, die für die arabischen Länder einen separaten Pass hatten. Sie konnten somit ohne Problemein die USA einreisen. Aber was für einen Sinn hatte es, Einreisen nach Syrien und Russland voneinander getrennt zu halten?
    Ich zuckte mit den Schultern.
    Durch die Entdeckung der Pässe war ich mir wieder wohler gesonnen. Reisen. Ich spürte Vertrautheit, ja Sicherheit in mir emporsteigen. Bilder traten vor mein inneres Auge: Flughäfen, Rollfelder. Hier gab es einen roten Faden, der mich mit meiner Vergangenheit verband. Irgendwo da drinnen in diesen Gehirnwindungen steckte alles, was ich wissen musste – verschüttet zwar, aber dennoch präsent. Nichts war verloren gegangen. Ich musste es nur freischaufeln. Und es war, wie Anouk sagte, alles würde gut werden. Mehr und mehr der abgebrochenen Teile meines Selbst würden zu mir zurückkehren. Die Fragmente würden sich aneinanderreihen und letztendlich ein Bild ergeben, mit dem ich leben konnte.
     
    Am nächsten Morgen erwachte ich früh. Wie von fern hörte ich Regentropfen, die auf das Oberlicht fielen. Noch bevor ich die Augen öffnete, stieg eine Erinnerung in mir auf – die Erinnerung an einen Morgen in meinem früheren Leben, an diese Wohnung, an dieses Schlafzimmer.
    Als hätte mir jemand einen leichten Schlag versetzt, lief urplötzlich eine Szene vor mir ab: Ich sah mich selbst hier liegen, neben Anouk. Es war ein ebenso grauer Tag wie dieser und ich beobachtete die Regentropfen. Plötzlich erschien Anouks Gesicht über mir, ihre Schultern schimmerten milchweiß im Dämmerlicht. Ich streichelte sie, ihre  weiße Haut, das Haar, ihre kleinen, runden Brüste. Sie trug nichts außer dem roten Stein um ihren Hals und sie sagte: »Ich will dich nicht verlieren.« Und über dieses Bild legte sich unmittelbar ein anderes: Anouk, die aufsprang,in wütender Raserei, nackt, und Weingläser zerschmetterte. Ich hörte sie schreien: »Ich halte das nicht mehr aus!«
    Schweißgebadet öffnete ich die Augen und die Bilder waren verschwunden. Neben mir, auf dem dunkelgrauen Kissen, lag Anouk, ihre Züge entspannt, wie die eines Kindes. Leise erhob ich mich, noch immer verwirrt von der Szene, die so plötzlich von irgendwoher gekommen war.
    Ich schlich aus dem Zimmer, ging in die Küche, setzte Wasser auf und sah aus dem Fenster. Mir gefiel die summende Geschäftigkeit, das alte Gesicht des Viertels, das in neuem Glanz erstrahlte. Ganz besonders mochte ich die Jugendstilfassade des Hauses schräg gegenüber, wenn die Nachmittagssonne die Goldornamente der winzigen Balkone zum Glitzern brachte. Ich liebte die Papeterie an der Ecke, in der man florentinisches Papier kaufen konnte. Prag – das waren auch die unzähligen edlen Cafés, in denen man Künstler neben Müttern mit ihren Kindern sitzen sah. Und plötzlich wusste ich auch, dass es hier irgendwo eine Konditorei gab, in der man die knusprigsten Karlsbader Oblaten bekam.
    Das Wasser brodelte und riss mich aus meinen Betrachtungen. Ich bereitete mir eine große Tasse mit heißem, starkem Kaffee und ging hinüber in mein Arbeitszimmer. Wie schon am Tag zuvor ließ ich mich wieder in der Einbuchtung des gewölbten Schreibtischs nieder, nahm den ersten Schluck und spürte, wie das Koffein die Lebensgeister in mir weckte.
    Mein Blick heftete sich auf die Rücken der jungfräulichen Nachschlagewerke und blieb an einer Reihe von Ordnern hängen, die diszipliniert und langweilig nebeneinander im Regal standen. Ich trat näher, zog einen von ihnen heraus. Er enthielt Unterlagen, die die Wohnung betrafen.Ich klappte ihn wieder zu, nahm den nächsten und stieß schließlich auf die Überschrift »Lebenslauf«.
    Mein Herz schlug schneller. Hier konnte ich womöglich mehr über mich selbst erfahren.
    Ich legte den Ordner auf den Tisch, beugte mich darüber und begann zu lesen: »Maximilian Friedrich Winther, geboren am 05.   07.   1962 in Leipzig. Vater: Dipl.-Ing. grad. Georg Winther. Mutter: Heidelinde Winther, geborene Schröder, Sekretärin.«
    Anouk hatte mir das alles erzählt, doch es hier schwarz auf weiß zu sehen, war noch einmal etwas anderes. Und ich war beruhigt: Irgendwie fühlte es sich auch wirklich
richtig
an. Vor allem Leipzig fühlte sich richtig an.
    Fing ich vielleicht endlich an, mich an meine Kindheit zu erinnern?
    Aber nein. Je weiter ich las, desto schwächer wurde das Gefühl wieder.
    Aus Anouks Berichten wusste
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