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Depeche Mode

Depeche Mode

Titel: Depeche Mode
Autoren: Serhij Zhadan
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Pavillon. Im Café, an einem hohen Tisch, steht niemand anderer als mein Freund Zündkerze persönlich, fast genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte – in kurzen, irgendwie schwulen Shorts und T-Shirt, mit seinem nachdenklichen mongolo-tatarischen Gesicht. Nur ganz braun und verstochen, im Prinzip ist hier rundherum Wald, alle möglichen Moskitos, Taranteln, keine Ahnung, was das für Chemiker sind, die ihre Kinder hierher in Ferien schicken, in die Verbannung.
    Zündkerze sieht mich, erstarrt für einen Moment, dann ergießt sich ein breites Ho-Chi-Minh-Lächeln über sein Gesicht.
    – Da bist du also, – sagt Zündkerze.
    – Ja, da bin ich.
    – Schön, – sagt Zündkerze.
    – Was bist du denn so fröhlich, Zündkerze? – sage ich nervös, halte mich dann aber zurück, sage zu mir selbst – Vorsicht, nicht so hastig. – Wie geht's, Zündkerze? – frage ich gutgelaunt. So ein Arsch, denke ich über mich selbst, wie kann es ihm schon gehen – sein Stiefvater ist erstens ein Krüppel und zweitens hat er sich erschossen.
    – Alles okay, – sagt Zündkerze und trinkt sein Glas stinkendes Kompott aus. – Woher weißt du es denn?
     
    Aha, denke ich, er weiß es also schon.
     
    – Hm, – sage ich, – dein Onkel Robert hat es mir erzählt.
    – Echt? – Zündkerze beißt in einen vertrockneten Keks. – Woher er es wohl weiß? Er hat mir noch nie gratuliert.
    – Wozu gratuliert? – frage ich.
    – Na, zum Geburtstag natürlich.
    – Zu wessen Geburtstag? – Ich verstehe nicht.
    – Zu meinem natürlich, – Zündkerze kaut zufrieden auf dem Keks herum.
    – Ach so, – sage ich nach einigem Nachdenken. – Natürlich, klar.
    – Wo sind die Geschenke? – Zündkerze freut sich immer noch.
    – Hier, – sage ich und gebe ihm die Wärmflasche. – Nimm.
    – Oh, eine Wärmflasche.
    – Das ist keine Wärmflasche, – sage ich.
    – Was denn?
    – Spiritus.
    – Oh, – ist das einzige, was Zündkerze antwortet.
    – Wollen wir? – frage ich und gehe zur Tusse an der Kasse.
    – Geben Sie mir, – sage ich – Kompott. Und Kekse.
     
    – Bist du allein? – fragt Zündkerze, als wir uns schon einen gemixt und getrunken haben.
    – Wasja war mit, – sage ich. – Aber er hat unterwegs schlapp gemacht. Läßt dich grüßen.
    – Alles klar, – sagt Zündkerze und trinkt den Spiritus in kleinen Schlucken. – Bleibst du lange?
    – Weiß nicht, – sage ich. – Vielleicht fahre ich mit dem nächsten Zug zurück.
    – Spinnst du? Der geht schon in einer Stunde. Da können wir ja gar nicht richtig feiern. Bleib hier, fahr morgen. Ich bring dich im Zelt mit den jungen Pionieren unter.
    – Besser mit den Pionierinnen, – sage ich.
    – Wir können zum Fluß gehen, – Zündkerze hört mir gar nicht zu. – Kannst die anderen Betreuer kennenlernen.
    – Sind die in Ordnung? – frage ich.
    – Ja, – sagt Zündkerze und schluckt Spiritus. – Die Mädels sind in Ordnung.
    – Gut, – sage ich. – Gut. Hast du nichts von daheim gehört?
    – Nein, – sagt Zündkerze. – Nichts. Gott sei Dank.
    – Wieso denn das?
    – Kotzen mich an, – sagt Zündkerze. – Wenn sie auftauchen, gibt's sofort Ärger. Besonders mit diesem einbeinigen Arsch.
    – Dein Stiefvater?
    – Klar. Verstehst du, – erzählt er mir, – ich hab schon vor einem Jahr Schluß gemacht mit ihnen, besucht mich bloß nicht, ich kenn euch nicht, sage ich, aber sie lassen mich einfach nicht in Ruhe. Ich hab sie aus meinem Leben gestrichen, sie existieren nicht für mich, kapiert? Sie nerven mich. Also erinnere mich bloß nicht an sie, besonders heute nicht, ich hab heute Geburtstag, klar?
    – Klar, – sage ich. – Wo kann man hier pissen?
    – Dort, – Zündkerze zeigt auf die Tür. – In der Taiga.
     
    13.00
    Der letzte Zug nach Wuslowa fährt in 45 Minuten. Wenn ich es ihm jetzt sage, schafft er es zu packen und ist schon um drei dort. Aus Wuslowa, denke ich, kann er mit dem Bus heimfahren, Kakao hat gesagt, daß von dort einer geht. Im Prinzip kann er es schaffen. Hauptsache, es ihm jetzt sagen. Zurückgehen und es ihm sagen. Aber irgendwas ist komisch. Irgendwas hemmt mich. Was? Was, wenn ich es ihm nicht sage? Ich bin nicht sicher, daß ich es ihm sagen will. Meiner Ansicht nach geht es ihm gut, zumindest alles okay, ich bin also nicht sicher, ob ich das Recht habe, ihm jetzt was zu sagen. Andererseits – man hat mich darum gebeten, der Rest geht mich nichts an – immerhin sein Stiefvater, seine Mutter wollte ihn sehen,
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