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Depeche Mode

Depeche Mode

Titel: Depeche Mode
Autoren: Serhij Zhadan
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Wasser, los, sagt er, wasch dich, Dog wiegt den zerschlagenen Kopf und versteht nicht ganz, wo und wer er ist. Bleibt auf der Plattform zwischen den Waggons sitzen, in Charkiw öffnet der Schaffner die Tür und hilft ihm auszusteigen, Dog tut ein paar Schritte, taumelt und kann sich kaum auf den Beinen halten, dann reißt er sich zusammen und verläßt den Bahnhof. Nach einer Stunde kommt er bei seiner Veteranen-Oma angekrochen, oh, sagt seine Oma, Vitalik, wo warst du nur? alles klar, sagt Dog, alles klar, und geht neben dem Kühlschrank zu Boden.
    Nach zwei Tagen ruft seine Oma den Notarzt. Oh, sagen die Ärzte, der hat ja eine Gehirnerschütterung, und anscheinend auch das Schlüsselbein gebrochen, sie tragen Dogs Körper hinaus und fahren ihn ins Krankenhaus.
    Ein paar Tage später erlangt Dog das Bewußtsein wieder, die Ärzte haben sich schnell an ihn gewöhnt, ihm ist auch nicht mehr dauernd schlecht, also eigentlich alles in Ordnung, Dog kann sogar schon aufstehen und durch den Korridor wandern, freundet sich mit dem Personal an und ist überhaupt auf gutem Wege. Am Samstag, als nur eine einzige Schwester Dienst tut, dringt Dog ins Zimmer des Chefarztes ein, findet dort Spiritus, Ascorbinsäure und irgendwelche anderen Tabletten und schluckt das alles an Ort und Stelle – im Zimmer des Chefarztes.
    Am nächsten Morgen findet man Dog auf dem Boden, aus Dogs Mund rinnt der Speichel, man beginnt, ihn wiederzubeleben, als sie ihn wiederbelebt haben, überlegen sie – was sollen wir mit diesem Scheißkerl bloß anfangen. Das Personal jedenfalls ist beleidigt und weigert sich, ihn zu behalten. Den Sommer verbringt Dog in der Klapse. Er nimmt schnell zu und verwildert, ein echter wilder Dingo, es wächst ihm ein dichter, schwarzer Schopf, tagsüber geht er in den Krankenhausgarten und pflückt Äpfel. Die Äpfel bringt er seinen Nachbarn, selbst ißt er keine, niemand weiß warum. Einmal sieht Dog in der Klapse Tschapaj. Der schlurft in sich gekehrt durch den Flur, in Trainingshosen und löchrigen Turnschuhen, in der Hand ein Lunchpaket, aus dem ein Flaschenhals ragt. Tschapaj erkennt Dog nicht. Im September ruft der Arzt Dog zu sich, also, sagt er, Vitalij Lwowytsch, wir haben keinen Bock mehr, Sie zu behandeln – so ähnlich sagt er es ihm, vielleicht nicht wortwörtlich, aber fast so – keinen Bock mehr, Sie hier zu behandeln, also verschwinden Sie. Wohin? fragt Dog erschöpft. Also, sagt der Arzt, Sie können wählen – Knast, wenn auch vielleicht nicht lange, oder Baubataillon. Ich will nicht ins Baubataillon, sagt Dog, ich habe, wie sagt man – religiöse Überzeugungen. Was für Überzeugungen? Der Arzt versteht ihn nicht. Religiöse, sagt Dog. Ich bin Mormone. Mormone? fragt der Arzt. Mormone, – sagt Dog unsicher. Dann also Knast, sagt der Arzt. Dog wählt die Streitkräfte. Der Arzt schickt ihn zurück in sein Zimmer und denkt noch, wie schlecht er doch aus dem Mund riecht, dieser Kranke.
    Ich habe ihn nicht mehr wiedergesehen.
     

Epilog Nr. 2
     
    11.15
    – Seid ihr mit dem befreundet?
    – Ja. Sind wir.
    – Ein guter Junge. Schade um ihn.
    – Ja, – sage ich. – Aber was hätten wir tun sollen?
    – Ich sag ja gar nichts. Nur – schade um ihn.
    – Vielleicht lassen sie ihn laufen?
    – Vielleicht. Vielleicht lassen sie ihn sogar laufen, – sagt die Tusse und verstummt. Sie fährt schon seit Kinzewa mit, hat am Bahnhof ebenfalls zwei Stunden gewartet und sitzt uns jetzt gegenüber und labert.
    – Hier, – sagt sie plötzlich und holt aus ihrer riesengroßen Tasche eine Wärmflasche aus Gummi.
    – Was ist das? – frage ich.
    – Spiritus.
    – Wie – echter Spiritus?
    – Ja. Reiner Spiritus.
    – Woher haben Sie den?
    – Aus Polen mitgebracht.
    – Aus Polen?
    – Ja. Bin mit der Ware hingefahren, – sagt die Tusse, – hab aber kaum was verkauft. Zu schade, es dazulassen, also bringe ich es wieder mit zurück. Hier, trinkt auf euren Freund.
    – Lassen Sie doch, – sage ich, – nicht nötig.
    – Nehmt nur, – sagt die Tusse und dreht sich von uns weg, spricht mit ein paar Bekannten auf der Nachbarbank.
    Ich nehme die Wärmflasche, halte sie Wasja hin – was ist, hau'n wir einen weg auf Dogs Seelenfrieden? schließlich haben wir unseren Freund und Antisemiten nicht retten können, hau weg den Scheiß, Wasja ist einverstanden und holt eine halbleere Mineralwasserflasche hervor. Ich öffne die Wärmflasche und gieße ein, versuche dabei, ungefähr das Verhältnis zu wahren,
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