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Depeche Mode

Depeche Mode

Titel: Depeche Mode
Autoren: Serhij Zhadan
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jedenfalls wurden seine Porträts damals genauso retuschiert wie heute, das fällt sogar mir auf. Die Musik im Radio hat sich verändert, aber eigentlich höre ich kein Radio. Die Kleidung hat sich verändert, aber die Achtziger sind, so weit ich sehen kann, weiter in Mode. Das Fernsehprogramm hat sich nicht verändert, ist immer noch klebrig und ätzend wie auf Parkett verschüttete Limonade. Das Klima hat sich nicht verändert, der Winter ist genauso lang und der Frühling – genauso lang ersehnt. Die Freunde haben sich verändert, soll heißen einige sind für immer verschwunden, andere neu aufgetaucht. Das Gedächtnis hat sich verändert, es ist länger geworden, aber nicht besser. Ich hoffe, es reicht noch für ungefähr 60 Jahre L-m-a-A und unerschütterliches seelisches Gleichgewicht. Das wünsche ich mir. Amen.
     

 
    17.06.93 (Donnerstag)
     
    Prolog Nr. 1
     
    16.50
    Am 17. Juni gegen fünf Uhr nachmittags versucht Dog Pawlow, die Metro zu betreten. Er kommt zum Drehkreuz, geht direkt auf die Frau in Uniform zu und zieht einen Veteranenausweis aus der Tasche. Die Frau in Uniform sieht sich den Ausweis an und liest »Pawlowa Wira Naumiwna«. – Und? – fragt sie.
     
    – Meine Oma, – sagt Dog Pawlow.
    – Wo ist deine Oma?
    – Das, – Dog zeigt den Ausweis. – Meine Oma.
    – Na und?
    – Sie ist Kriegsveteran.
    – Und du, was willst du?
    – Sie hat im Panzer gebrannt.
     
    Die Frau prüft noch mal den Ausweis. Wer weiß, denkt sie, vielleicht hat sie wirklich gebrannt, dem Foto sieht man es jedenfalls nicht an.
     
    – Na gut, – sagt sie. – Und was willst du von mir?
    – Lassen Sie mich durch, – sagt Dog.
    – Hast du vielleicht auch im Panzer gebrannt?
    – Moment, Moment, – Dog beginnt zu verhandeln, – vielleicht bringe ich ihr ja was zu essen.
    – Was denn zu essen?
    – Zu essen halt, – Dog überlegt, was seine Oma eigentlich ißt, wenn man sie läßt. – Milchprodukte, verstehen Sie? Käse.
    – Selber Käse, – sagt die Tusse in Uniform nicht unfreundlich.
     
    Dog weiß, wie das alles für Unbeteiligte aussehen muß. Daß er mit dem Kopf gegen eine riesige unendlich lange Mauer rennt, mit der sich das Leben von ihm abgeschottet hat, dagegen anrennt ohne die geringste Hoffnung auf Erfolg, und daß ihm die Freuden des Lebens, darunter auch das Benutzen der Metro, derzeit einfach nicht vergönnt sind, so sieht es aus. Er faßt sich ein Herz und sagt etwas wie, jetzt hören Sie mal, gute Frau, natürlich redet er nicht so, aber ungefähr das bedeutet es. Also, hören Sie mal – sagt er, – okay? Regen Sie sich bloß nicht auf. Ich will Ihnen was sagen, gute Frau. Sie können mich natürlich verachten, ich merke ja, daß Sie mich verachten, Sie verachten mich doch, oder? Hören Sie zu, hören Sie zu, ich bin noch nicht fertig, hören Sie zu. Aber trotzdem, verstehen Sie, wie soll ich sagen – also, Sie, wie soll ich sagen, Sie sehen das vielleicht anders, gut, Ihnen ist es egal, aber eins müssen Sie zugeben: es kann nicht sein, daß meine Oma nur deswegen vor Hunger verreckt, weil ich, ihr, bitteschön, gesetzlicher Enkel, von irgend so einer blöden Kuh aus der Etappe nicht in die Metro gelassen werde. Geben Sie es zu? (Danach keifen sie sich nur noch an, nichts zu machen.) Er konzentriert sich, schlüpft der Frau unter den Armen durch, wobei er mit dem Veteranenausweis in der Luft herumwedelt, und verschwindet im kühlen Gedärm der Metro. »Was heißt hier blöde Kuh aus der Etappe? denkt die Frau. – Ich bin doch Jahrgang 49.«
     
    17.10
    Dog steigt unter dem Stadion aus, leerer Bahnsteig, in ungefähr einer Stunde spielt »Metallist« sein letztes Heimspiel, heute kommen bestimmt alle, klar, Saisonende und das ganze Gedöns, oben ein verregneter Sommer, der Himmel in Wolken, und irgendwo direkt über Dog das halbverfallene Stadion, ganz durchweicht und eingesunken in den letzten Jahren, Gras frißt sich durch die Betonplatten, vor allem wenn es geregnet hat, die Ränge verdreckt von den Tauben, auch auf dem Feld Scheiße, vor allem wenn wir spielen, ein kaputtes Land, kaputter Sport, die großen Steuermänner haben es versaut, wenn ihr mich fragt, denn wie auch immer, in der Sowjetunion gab es zwei Sachen, auf die man stolz sein konnte – Fußball und Atomwaffen, und wer das Volk dieser Errungenschaften beraubt hat, kann wohl kaum auf ein sorgenfreies Alter zählen, nichts ist so schlecht fürs Karma wie beschissene nationale Politik, klar. Dog steht schon eine
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