Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Deine Seele in mir /

Deine Seele in mir /

Titel: Deine Seele in mir /
Autoren: Susanna Ernst
Vom Netzwerk:
nicht an einem Arzt vorbeikommen. Wir müssen abklären, ob es nicht doch ein Bandscheibenvorfall ist.«
    Der arme Kerl sieht aus, als hätte ich soeben die Todesstrafe gegen ihn ausgesprochen. Wieder stößt er sein bitteres Lachen aus und lässt seinen Blick zu der hohen Zimmerdecke wandern.
    Mit beiden Händen streicht er sich die dunkelblonden Haare aus der Stirn. »Es darf kein Bandscheibenvorfall sein. Wie soll Kristin denn ohne mich klarkommen?«, wispert er, mehr zu sich selbst als zu einem von uns. »Wenn ich es schon nicht mehr schaffe, Julie zu heben, wie soll sie das denn erst machen?«
    Mein Blick fällt wieder auf die junge Frau. Von meiner jetzigen Position aus sehe ich ihr Gesicht im Profil.
    Sie ist eigentlich recht hübsch. Geradlinige Gesichtszüge, volle Lippen. Die dunklen, welligen Haare fallen offen bis weit über ihre Schultern hinab. Doch etwas Entscheidendes fehlt ihr. Sie sieht absolut ausdruckslos und leer aus, ohne die Spur einer eigenen Note. Ihr Gesicht wirkt wie eine aufgesetzte Maske. Ja, wie eine seelenlose Hülle.
    Sie erinnert mich an eine Schaufensterpuppe. Dennoch – Julie hat etwas Faszinierendes an sich.
    Wieder reiße ich meinen Blick von ihr los.
    »Warum tragen Sie Julie überhaupt? Kann man sie denn nicht irgendwie zum Laufen bewegen? Ich meine … sie kann doch laufen, oder?«
    Meine Frage stelle ich beinahe ängstlich und befürchte, in ein Fettnäpfchen von der Größe eines Baseball-Feldes getreten zu sein, doch zu meiner großen Erleichterung nickt Kristin sofort.
    »Ja, natürlich! Julie läuft hervorragend. Aber nur, wenn sie es will, und auch nur, wohin sie will. Und dieses Herab- und Herauftragen gehört zum Alltagsritual. Das machen wir schon immer so, seitdem sie ein Baby war. Jeden Morgen und jeden Abend. Wenn wir es nicht tun, dann rührt sie sich nicht, wir haben das schon probiert.«
    Tom nickt. »Anscheinend wartet sie, bis wir sie tragen. Und wir möchten sie ja auch hier unten haben, bei uns.«
    Kristin sieht auf ihre Tochter hinab und streicht ihr über den Kopf. »Beim Sprechen ist es ähnlich. Sie spricht so gut wie nie, doch wir wissen, dass sie es kann. Manchmal redet sie, aber dann ist es so, als ob jemand im Schlaf vor sich hin erzählt. Die Wortfetzen sind wie Bruchstücke aus ihrer eigenen kleinen Welt, die zu uns durchdringen. Sie ergeben keinen Sinn für uns. Auf Ansprache reagiert sie so gut wie gar nicht.«
    Kristin presst die ohnehin schon schmalen Lippen aufeinander, so dass sie fast völlig verschwinden und nur noch eine hauchdünne, gerade Linie sichtbar bleibt. Sie atmet tief durch und zuckt mit den Schultern.
    »Für Außenstehende ist es sehr schwierig, das nicht als böse Absicht von Julie abzutun, wenn wir sie wiederholt ansprechen und sie einfach nicht auf uns reagiert. Aber … so ist es nun mal. Wir haben keine Möglichkeit, zu ihr durchzudringen. Trotzdem reden wir natürlich mit unserem Kind. Ab und zu blitzt etwas in ihren Augen auf. Dann weiß ich, dass sie mich wahrnimmt. Manchmal lächelt sie uns sogar an, doch nur eine Sekunde später ist ihr Blick wieder starr und Julie erneut weit weg. Es ist … nicht schön!« Kristin schafft es trotzdem, ihrem Lächeln eine tiefe Glaubwürdigkeit zu verleihen.
    »Egal«, sagt Tom. »Ein klarer Blick von ihr ist trotzdem all die Mühe wert.« Plötzlich wird sein Gesichtsausdruck nachdenklich. »Haben Sie eigentlich Kinder, Andrews?«
    Geschockt über diese private Frage schüttele ich den Kopf. »Nein. Keine Frau, keine Kinder.«
    Diese Erklärung klingt sogar in meinen Ohren erleichtert.
    Warum eigentlich?
    Kristin lacht. »Mr Andrews ist ein Workaholic, das weißt du doch, Schatz. Und andauernd ist etwas mit deinem Rücken. Du lässt dem armen Mann ja gar keine Chance auf ein wenig Privatleben. Er verflucht sicher den Tag, an dem er uns in seine Patientenkartei aufgenommen hat.«
    Nun lacht auch Tom. Was eindeutig keine gute Idee zu sein scheint, denn sofort verzieht sich sein Gesicht wieder. »Au, verdammt!«
    »Habe ich Ihnen erlaubt, auf meine Kosten zu lachen, Tom?« Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Kommen Sie, ich fahre Sie in die Praxis. Meine Kollegin Dr. Carter kann klären, wie es um Ihren Rücken steht.«
    Gerade will ich ihm meine Hand reichen, als sich am Rande meines Sichtfeldes etwas ruckartig bewegt. Ich wende meinen Kopf in die Richtung.
    Es ist Julie. Sie ist aufgestanden und durchquert den Raum.
    »Wohin geht sie?« Warum ich meine Frage flüstere, weiß
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher