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Deine Seele in mir /

Deine Seele in mir /

Titel: Deine Seele in mir /
Autoren: Susanna Ernst
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trat um sich. Doch sie war wehrlos der Kraft dieses maskierten Mannes ausgeliefert. Eingequetscht zwischen dem kühlen Waldboden unter ihr und dem Gewicht des viel zu heißen Körpers über ihr, spürte sie einen Stich zwischen ihren Beinen. Erschrocken riss sie die Augen auf; ihre Finger krallten sich in die Erde.
    Der Griff um ihren Hals festigte sich. Das spürte Amy nur am Rande, denn der Schmerz breitete sich aus und fraß sich, lodernd wie Flammen, durch ihren Unterleib, bis in die hintersten Winkel ihres Bewusstseins.
    In dem Moment, als sich Amy selbst zum letzten Mal atmen hörte, wich die Angst aus ihrem Körper.
    Das Einzige, was sie noch sah, bevor die Dunkelheit sie schluckte, waren seine Augen. Nicht die eisig blauen ihres Peinigers, sondern die sanften braunen Augen ihres besten Freundes. An einen Baum gefesselt, mit einem Knebel im Mund, saß Matt da. Nur etwa einen Meter von Amy entfernt.
    Eine Wunde klaffte an seiner Schläfe, das Blut rann ihm über die Wange.
    Matt war außerstande, sich zu rühren. Lautlos starrte er sie an. Und doch – das Mädchen hörte seinen Hilferuf. Es hörte sogar das Zittern in seiner imaginären Stimme.
    Bleib bei mir! Bitte, Amy, bleib bei mir! Ich habe solche Angst!
    Amy verbannte den Schmerz aus ihrem Bewusstsein. Sie bündelte den Rest ihrer Kraft und gab ihm ihr Wort.
    Hab keine Angst, Matty! Ich bleibe bei dir, ich verspreche es!
    Dann wurde es erneut dunkel.
    Und diese Dunkelheit war viel tiefer und intensiver als alles, was Amy je zuvor erlebt hatte. Doch sie fürchtete sich nicht mehr, und auch die Kälte war verschwunden. Warm jedoch war ihr auch nicht. Sie fühlte – nichts!
    Kurzes, grelles Aufflackern unterbrach die Dunkelheit nach einer Weile – zunächst nur sporadisch, dann jedoch immer regelmäßiger – und auf einmal sah das Mädchen ihr kurzes Leben an sich vorbeiziehen. Bilder, wie die eines alten Filmes, blitzten auf.
    Amy sah sich auf dem Rücken ihres Vaters reiten und dann in den Armen ihrer Mutter liegen. Mit einem feuchten Tuch kühlte sie Amys Stirn, während sie ihr die Geschichte von dem lustigen Zwerg und dem dummen Riesen erzählte. Amy roch den Duft von warmer Milch und frisch gebackenem Obstkuchen, von Getreide und frischem Heu. Sie sah Matty und sich selbst nebeneinander im noch feuchten Frühlingsgras liegen und in den Himmel starren – ein Drache, ein Löwe, ein Auto – in nahezu jeder Wolke erkannten sie eine Figur. Ein neues Bild löste die himmlischen Gestalten ab: Amy und Matt, die, bis auf die Unterwäsche entkleidet, auf Holzschemeln in Amys Garten saßen, während ihre Väter die Kinder mit Läusekämmen bearbeiteten. Dann sah sich Amy am Klavier sitzen und spielen. Matt saß neben ihr, lauschte und malte dabei – immer wieder dasselbe Motiv: ihren gemeinsamen großen Traum.
    Amy sah sich Hand in Hand mit Matty zur Schule rennen. Wie immer in Eile, doch zu spät kamen sie nie. Und in all diesen Bildern sah sie die Sonne hell und warm auf sich und ihren besten Freund herabscheinen.
    Schon hatten die Szenen aus Amys Kindheit ihre gesamte Macht entfaltet. Mühelos vernebelten sie die frischen Erinnerungen an Schmerz und Angst. Amy wollte nicht zulassen, was ihr Verstand ihr ankündigte: Diese betäubend schönen Bilder würden bald enden. Sie würden einfach erlöschen und sterben, zusammen mit ihr.
    Verzweifelt sog sie jedes Detail ihrer kaleidoskopischen Erinnerungen in sich auf und hielt sich mit der Kraft ihres Daseins daran fest.
    Je länger Amy dem nahenden Ende trotzte, desto heller und wärmer schien die Sonne auf Matty und sie herab. Heller und wärmer, bis dieses alles beherrschende Licht sie schließlich vollkommen umhüllte. Es nahm den Platz ein, den ihr Leben bisher ausgefüllt hatte, und nichts schien mehr von Bedeutung zu sein. Amy war erlöst.
    Zeit- und schwerelos schwebte sie in diesem Licht.
    Dann, Sekunden oder Jahre später, vernahm sie einen gedämpften Klang, den sie nach einiger Zeit als das Schreien einer Frau ausmachte.
    Näher und näher kam dieser Klang, und je deutlicher der Schrei wurde, desto stärker wandelte sich das Licht.
    Es wurde zunehmend greller, verlor mehr und mehr von seiner Wärme, und Amy spürte, wie es sie langsam wieder losließ. Sie wurde davongestoßen, ob sie es wollte oder nicht.
    Als das Licht so beißend grell war, dass es nur noch blendete, kehrte die Kälte zurück, und nur einen Augenblick später hörte sie sich selbst schreien.
    Schrill und markerschütternd und,
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