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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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herunter. Sie geht drei Schritte, fällt hin und steht lachend wieder auf, als wolle sie sagen: »Seht ihr, jetzt wisst ihr es auch. Und jetzt versteht ihr.« Sie selbst weiß es längst. Sie weiß so viel mehr als wir.
    AM LIEBSTEN WÄRE ICH NIE WIEDER ERWACHT . Wie gern hätte ich immer weitergeschlafen, um der Wirklichkeit nicht ins Auge sehen zu müssen. Dornröschen ist zu beneiden … Die Nacht hat sich dahingeschleppt. Immer wieder bin ich aufgewacht, und Gedanken quälten mich. Ich war von Unruhe erfüllt und voller Angst. Aber auch wenn es nur wenige Stunden Schlaf gewesen waren – sie hatten meine Sorgen verdrängt. Leider nur kurz. Für eine gewisse Zeit. Beim Aufwachen trifft der Bleiklotz erneut mit voller Wucht auf meine Seele. Die Bilder des Vortags überschlagen sich in meinem Kopf. Die Ärztinnen, die Nachricht, die Leere. Der Albtraum ist wieder Wirklichkeit geworden.
    Vor dem Chaos des gestrigen Tages erscheint eine friedliche Szene des Glücks wie ein Lichtstrahl, der durch dunkle Gewitterwolken bricht: eine strahlende Thaïs, die ihre beiden Kerzen auspustet und lachend ihre Geschenke öffnet. Gaspard singt lauthals »Zum Geburtstag viel Glück« für seine kleine Schwester. Eigentlich eine ganz normale Familienszene. An diesem Tag jedoch scheint der gesegnete Augenblick ein Fenster zu öffnen, durch das ein Hoffnungsschimmer eindringt.
    Gaspard und Thaïs haben nach der schlechten Nachricht schnell wieder zur Normalität zurückgefunden. Nachdem die erste Aufregung vorüber war, kannten sie nur noch ein Ziel: den zweiten Geburtstag von Thaïs zu feiern. Kinder besitzen die beneidenswerte Gabe, nach traurigen Ereignissen sofort wieder aufzuspringen. Sie leben ganz und gar in der Gegenwart und scheren sich nicht um die Zukunft.
    Das Verhalten von Gaspard und Thaïs erinnert mich an eine schöne Anekdote. Die unterschiedlichsten Personen wurden gefragt, was sie tun würden, wenn sie erführen, dass dies der letzte Tag ihres Lebens wäre. Alle Erwachsenen schmiedeten große Pläne, träumten von Schlemmermahlzeiten und wünschten sich, innerhalb kürzester Zeit die größtmögliche Anzahl von Träumen zu verwirklichen. Dann stellte man die Frage einem kleinen Jungen, der gerade dabei war, seine elektrische Eisenbahn aufzubauen.
    »Wenn du wüsstest, dass du heute Abend sterben musst, was würdest du dann heute Besonderes machen?«
    »Nichts. Ich würde einfach weiterspielen.«
    An diesem schmerzlichen Morgen, an dem mir bereits die Tränen in die Augen steigen, während ich noch eingekuschelt unter meiner Bettdecke liege, erkenne ich plötzlich, was zu tun ist: Ich muss versuchen, in der Gegenwart zu leben. Ich darf sie im Licht der Erinnerung sehen, mich aber nicht in der Vergangenheit vergraben. Auch auf die Zukunft darf ich hoffen, ohne jedoch nur noch im Gedanken daran zu leben. Im Grunde muss ich es machen wie die Kinder. Ich betrachte diesen Entschluss nicht nur als Lebensregel, sondern als Möglichkeit für mich selbst, zu überleben.
    Loïc streckt sich neben mir. Seine Züge werden hart, und seine Augen röten sich. Auch ihn überfällt die harte Wirklichkeit. Ich berichte ihm von meinem Entschluss. Er nickt nur stumm und nimmt mich in die Arme. Es ist, als würden wir damit einen Pakt besiegeln. Wir werden dieser harten Prüfung gemeinsam die Stirn bieten. Sie ist ein Teil unseres Lebens. Und wir werden sie durchstehen.

E INE WOCHE SCHON. 168 STUNDEN . 10080 Minuten. Und ebenso viele kleine Siege. Der Kampf beginnt jeden Morgen beim Aufwachen, wenn mich der Gedanke durchfährt: Thaïs ist krank. Jeden Tag klammere ich mich an die kleinen Gewohnheiten wie an einen Rettungsring, um nicht unterzugehen. Ich wecke Gaspard und Thaïs, ohne in Tränen auszubrechen; ich mache ihnen Frühstück und zwinge mich, selbst auch einen Happen zu essen; ich bringe Thaïs zu ihrer Tagesmutter und lasse sie dort, ohne zu weinen. Ich gehe zur Arbeit. Ich erledige meinen Job.
    Jeden Morgen spüre ich die Versuchung, alles aufzugeben und meine Tage nur noch mit Thaïs zu verbringen. Sie an mich zu drücken, mit ihr zu schmusen und ihr zu sagen, dass ich sie liebe. Wie herrlich das wäre! Aber es wäre kein Leben. Allenfalls ein Traum, den ich mir für später aufhebe. Für irgendwann, oben im Himmel. Nein, hier muss ich weitermachen. Für Loïc, für Gaspard, für unser ungeborenes Kind. Und natürlich auch für Thaïs.
    Sie hat sich nicht verändert; sie ist immer noch dasselbe bezaubernde, eigensinnige,
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