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Deine Schritte im Sand

Deine Schritte im Sand

Titel: Deine Schritte im Sand
Autoren: Anne-Dauphine Julliand
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verspielte und schelmische kleine Mädchen. Und gutmütig ist sie, sehr gutmütig. Umso besser. Sie wird viel Kraft und Kampfgeist brauchen, um mit ihrer Krankheit fertigzuwerden. Noch mangelt es ihr nicht daran. Wenn sie hinfällt, steht sie auf. Immer wieder. Jeden Tag versetzt sie uns aufs Neue in Erstaunen.
    Es dauert nur wenige Tage, bis die Anzeichen ihrer Krankheit deutlicher werden. Ihre Hände zittern. Das war auch vorher schon ein wenig der Fall, aber wir hatten es nicht wahrhaben wollen. Inzwischen fällt es ihr schwer, eine Kappe auf einen Stift zu setzen oder ihren Löffel zu halten. Ich möchte ihr helfen. Ich sehe ihre Schwierigkeiten sogar manchmal voraus und handele an ihrer Stelle. Doch dann wird sie ärgerlich.
    »Nein, Thaïs macht!«
    Sie möchte alles selbst machen, und sie möchte es allein tun. Ich lasse sie gewähren. Wie in allem anderen auch. Ich nehme jeden ihrer Wünsche ernst und gehe über ihre Launen hinweg. Ich sehne mich danach, sie vollkommen glücklich zu sehen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Sie wird unruhig und scheint sich nicht wohlzufühlen. Ich bin ratlos und weiß nicht, was ich tun soll, damit es ihr gutgeht.
    »Benimm dich so, als wäre nichts«, rät mir Loïc. »Sie versteht nicht, dass du früher mit ihr geschimpft hast, wenn sie eine Dummheit gemacht hat, und ihr heute scheinbar ohne Grund alles durchgehen lässt. Ihr muss es so vorkommen, als interessiertest du dich nicht für sie. Für sie hat sich dadurch, dass wir jetzt von ihrer Krankheit wissen, nichts verändert. In ihrem kleinen Kopf gibt es kein vor und nach dem 1. März; für sie geht das Leben weiter wie immer. Und deswegen müssen wir uns auch verhalten wie immer. Wir werden ihre Erziehung nicht vernachlässigen, sondern sie an die veränderten Umstände anpassen. Ich halte es für wichtig, ihr einen Rahmen zu geben, damit sie ihr Gleichgewicht behalten und sich selbst verwirklichen kann. Ohne Grenzen, die wir ihr setzen, würde Thaïs sich verloren fühlen.« Es stimmt. Er hat recht. Ich hatte die Anekdote vom kleinen Jungen mit seiner elektrischen Eisenbahn schon wieder vergessen …
    » ICH MÖCHTE AUCH LEUKODYSTROPHIE HABEN . Dann würden sich alle auch um mich kümmern. Aber lieber nur eine ganz kleine Leukodystrophie, damit Papa und Mama sich keine Sorgen machen müssen.«
    Die Psychologin hört Gaspard aufmerksam zu. Er hat den Satz fast beiläufig und ohne zu zögern mitten im Gespräch geäußert; ein Beweis dafür, was unser kleiner Sohn in letzter Zeit aushalten muss. Seit wir ihm von Thaïs’ Krankheit erzählt haben, verhält er sich so. Er spricht ohne Vorbehalt aus, was er denkt. Außerdem hat er angefangen, seiner kleinen Schwester Herausforderungen zu stellen. Er baut Hürden auf, wenn sie läuft. Fällt sie hin, hilft er ihr nicht etwa auf, sondern feuert sie im Gegenteil an, die Hindernisse zu übersteigen oder zu umgehen. Sie soll sich allein helfen.
    Auch uns vertraut er seine Gefühle mit entwaffnender Ehrlichkeit an. Gaspard nennt die Dinge beim Namen, und das ist nicht schlecht. Allerdings wissen wir nicht, wie wir ihm antworten sollen. Es ist schwer genug, mit unserem eigenen Schmerz fertigzuwerden. Wir fühlen uns verpflichtet, ein Gleichgewicht in der Familie zu schaffen, stoßen als Eltern aber zunehmend an unsere Grenzen. Gaspards Fragen sind uns zu schwierig. Wir haben nicht genügend Abstand, um sie klar und kindgerecht beantworten zu können. Daher haben wir die professionelle Hilfe einer Psychologin in Anspruch genommen. Sie verfügt über Möglichkeiten, die uns nicht zugänglich sind.
    Die Psychologin empfängt Gaspard, Loïc und mich in einem gemütlichen Zimmer. Gaspard bekommt ein weißes Blatt und Filzstifte. Auf Bitten der Psychologin beschreiben Loïc und ich unsere Situation, während Gaspard malt. Er scheint in seine Tätigkeit versunken zu sein, doch er bekommt jedes Wort unserer Unterhaltung mit. Unser Bericht geht zurück bis zu Thaïs’ Geburt. Gaspard malt plötzlich wilder. Zum ersten Mal greift die Psychologin ein.
    »Wenn eine kleine Schwester geboren wird, ist es manchmal so, dass der große Bruder gar nicht froh darüber ist. Er hat Angst, dass man sich nicht mehr für ihn interessiert, und denkt sich oft allerlei schreckliche Dinge für das Baby aus. Er wünscht sich zum Beispiel, er könne zaubern, um das Schwesterchen verschwinden zu lassen. Wenn dann nach einiger Zeit herauskommt, dass es der kleinen Schwester nicht gutgeht und dass sie krank ist,
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