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Das Winterhaus

Das Winterhaus

Titel: Das Winterhaus
Autoren: Judith Lennox
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wirbelnden Flocken zu schneien. Sie war den ganzen Tag wie getrieben, unfähig, sich irgend etwas in Ruhe hinzugeben. Nachdem sie in der vergangenen Nacht kaum geschlafen und von Joe geträumt hatte, war sie mit nassen Augen aufgewacht. Mittwoch nachmittags pflegten sich die meisten Medizinstudenten auf einem Hockeyfeld auszutoben. Robin konnte dem nichts abgewinnen; eine Erkältung vorschützend, machte sie sich aus dem Staub. Aber sie wollte auch nicht in die leere Wohnung zurück. Schließlich kaufte sie sich eine Kinokarte und setzte sich in das dunkle Theater. In dem Film, der schon zur Hälfte abgespult war, ging es um eine komplizierte Liebesgeschichte zwischen einer kleinen Fabrikarbeiterin und dem Fabrikantensohn. Robin gähnte und nickte eine Weile ein und rutschte gelangweilt auf ihrem Sitz hin und her.
    Sie wurde munterer, als die Wochenschau begann. Irgend etwas über König Georg und Königin Mary dann ein ziemlich trockener Bericht über Zuckerrübenzucht in East Anglia. Danach – Robin richtete sich auf – ein Film über den Austausch von Kriegsgefangenen in Spanien. Sie sahen irgendwie so vertraut aus, diese Männer. Die Cordhosen und -jacken, die marineblauen Arbeitsanzüge. Die abgemagerten Gesichter, die zu lächeln versuchten. Einer von ihnen hob die geballte Faust zum Gruß. Robin hätte am liebsten geweint. Dann drehte sich der hochgewachsene, schmale, dunkle Gefangene um und blickte direkt in die Kamera.
    »Joe!« schrie sie so laut, daß die Leute in der Reihe vor ihr sich umdrehten und schimpften, aber sie hörte sie gar nicht. Sie war aufgesprungen und starrte mit hämmerndem Herzen auf die Leinwand.
    Nach der Wochenschau folgte ein Trickfilm. Als sie die albernen hölzernen Geschöpfe sah, hätte sie dem Mann am Projektor am liebsten zugeschrien, er solle den Film zurückspulen. Jemand packte sie am Ärmel und sagte, sie solle sich gefälligst setzen, und sie ließ sich wieder auf ihren Sitz fallen. Schon nach kurzer Zeit verging ihr ganzer Überschwang. Sie hatte sich getäuscht, sie war überzeugt davon. So oft schon hatte sie, seit sie aus Spanien zurück war, geglaubt, Joe zu sehen – ein schwarzhaariger Mann in einem Jackett mit durchgescheuerten Ellbogen in der Oxford Street – eine Stimme in der Schlange bei Woolworth. Jedesmal hatte sie sich getäuscht. In finsterer Verzweiflung rutschte sie tiefer in ihren Sitz. Dennoch verließ sie das Kino nicht, sondern sah sich den Trickfilm an, dann ein kurzes Stück über Kanada und dann noch einmal die ganze Liebesgeschichte der Fabrikarbeiterin. Als die Wochenschau von neuem begann, hatte sie alle ihre Fingernägel abgeknabbert. Sie starrte auf die Leinwand und sah ihn wieder. Auf einer Seite des Kopfes hatte er ein Mal, das wie eine Narbe aussah. Sie unterdrückte die Freudentränen, weil sie ihn dann nicht richtig hätte sehen können.
    Noch zweimal ließ sie das ganze Programm über sich ergehen. Jedesmal war es das gleiche: Sobald sie ihn sah, war sie sicher, aber kaum verschwanden seine Gesichtszüge von der Leinwand, kehrten die Zweifel wieder. Als sie das Kino verließ, schneite es immer noch. Am nächsten Nachmittag schwänzte sie eine Vorlesung und ging noch einmal in das Kino. Und nachdem sie sich das ganze Programm weitere viermal angesehen hatte, war sie überzeugt, daß Joe am Leben war.
    Joe machte die Reise durch Frankreich allein. Von der Quäkerorganisation, die den Gefangenenaustausch überwacht hatte, hatte er etwas Geld und eine Fahrkarte für die Eisenbahn bekommen. Ihre Angebote, ihm Begleitung mitzugeben, hatte er ausgeschlagen. Er mußte allein sein.
    Er reiste langsam, mit häufigen Unterbrechungen, um zu rasten. Die Kopfschmerzen, unter denen er nach seiner Verwundung monatelang gelitten hatte, waren zum Glück verschwunden, aber sein rechter Arm bereitete ihm immer noch Schmerzen. Ein Quäkerarzt hatte ihn untersucht, ehe man ihn über die Grenze geschickt hatte, und Joe hatte die Realität hinter den aufmunternden Worten wahrgenommen. Dennoch war ihm bewußt, daß er froh sein konnte, den Arm nicht verloren zu haben. Genauso wie er froh sein konnte, nicht an der Kopfverletzung gestorben zu sein, nicht von den nationalistischen Wachen erschossen worden zu sein. Nur konnte er die Freude darüber nicht empfinden. Er war nichts als müde.
    Im Zug nach Paris musterte ein junger Mann ihn neugierig und fragte, ob er in Spanien gekämpft habe. Joe schüttelte den Kopf und schaute demonstrativ zum Fenster hinaus. Es
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