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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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hervorbringt. Bitte entschuldigen Sie, aber ich glaube, wir können unser Geld sinnvoller investieren.«
    »Aber überlegen Sie doch, was Sie dafür bekommen. Die anderen Besitzer und ich haben viele Jahre in die Aufzucht dieser Digis gesteckt. Verglichen mit den Kosten für die Angestellten, die Sie einstellen müssten, um das Gleiche mit einem anderen Genom zu erreichen, ist der Neuroblast-Port günstig. Und der mögliche Gewinn ist genau das, was Ihre Gesellschaft anstrebt: Programmiergenies, die mit Hochgeschwindigkeit arbeiten und sich selbst auf ein Level übermenschlicher Intelligenz bringen. Wenn diese Digis hier und heute Spiele entwickeln können, stellen Sie sich nur vor, wozu ihre Nachkommen in der Lage wären. Und jeder Einzelne würde Ihnen Geld einbringen.«
    Brauer will gerade antworten, als Pearson ihm ins Wort fällt. »Ist das der Grund, weshalb Sie Neuroblast portieren lassen wollen? Um zu sehen, was superintelligente Digis eines Tages erfinden könnten?«
    Ana merkt, dass Pearson sie prüfend ansieht, und kommt zu dem Schluss, dass es keinen Zweck hat, ihn anzulügen. »Nein«, sagt sie. »Ich möchte, dass Jax die Chance erhält, ein erfüllteres Leben zu führen.«
    Pearson nickt. »Sie möchten Jax gerne irgendwann als Firma deklarieren, nicht wahr? Ihn juristisch irgendwie als Person anerkennen lassen?«
    »Ja.«
    »Und ich wette, Jax möchte das Gleiche, stimmt’s? Als Firma eingetragen werden?«
    »Im Großen und Ganzen ja.«
    Wieder nickt Pearson – er sieht seinen Verdacht bestätigt. »Das ist für uns ein Ausschlusskriterium. Es ist ja schön, dass man sich gut mit ihnen unterhalten kann, aber durch all die Aufmerksamkeit, die Sie Ihren Digis gewidmet haben, betrachten sie sich inzwischen selbst als Personen.«
    »Wieso ist das ein Ausschlusskriterium?« Doch sie kennt die Antwort bereits.
    »Wir streben nicht nach superintelligenten Angestellten, wir streben nach superintelligenten Produkten. Sie bieten uns Ersteres an, und ich kann es Ihnen nicht verdenken; niemand kann so viele Jahre lang wie Sie ein Digi unterrichten und es danach noch als Produkt ansehen. Aber unser Unternehmen basiert nicht auf dieser Art von Sentimentalität.«
    Pearson spricht unverhohlen aus, was Ana bisher bewusst ignoriert hat: die grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen ihren Zielen und denen von Exponential. Exponential will etwas, das wie eine Person reagiert, dem man aber nicht die gleichen Rechte einräumen muss wie einer Person, und das kann sie der Firma nicht geben.
    Niemand kann ihr das geben – es ist ein Ding der Unmöglichkeit. In den Jahren, in denen Ana Jax aufgezogen hat, ist er nicht einfach nur zu einem guten Gesprächspartner geworden, er hat dadurch nicht nur Hobbys und Sinn für Humor entwickelt. Vielmehr hat er sich in diesen Jahren all das angeeignet, wonach Exponential sucht: die Fähigkeit, sich mühelos in der wirklichen Welt zu bewegen, Kreativität beim Lösen von Problemen, ein Urteilsvermögen, dem man auch wichtige Entscheidungen anvertrauen würde. Alle Merkmale, durch die eine Person mehr wert ist als eine Datenbank, sind das Ergebnis von Erfahrung.
    Am liebsten würde sie ihnen sagen, dass Blue Gamma damals richtig lag, sogar mehr, als der Firma damals selbst bewusst war: Erfahrung ist nicht nur die beste Lehrerin, sondern auch die einzige. Wenn Ana durch Jax überhaupt etwas gelernt hat, dann ist es die Tatsache, dass es keine Abkürzungen gibt; wenn man Verstand hervorbringen möchte, wie er sich entwickelt, wenn man zwanzig Jahre auf der Welt lebt, muss man dieser Aufgabe zwanzig Jahre widmen. In einer kürzeren Zeit kann man keine entsprechende Sammlung von Heuristik zusammenbringen; Erfahrung lässt sich nicht durch einen Algorithmus komprimieren.
    Und es wäre zwar möglich, all diese Erfahrung abzuspeichern und sie unendlich oft zu kopieren, es wäre möglich, die Kopien billig zu verkaufen oder sie gratis weiterzugeben, doch jedes der so produzierten Digis hätte dennoch ein ganzes Leben lang gelebt. Jedes von ihnen hätte die Welt einst mit neuen Augen gesehen, bei jedem hätten sich Hoffnungen erfüllt oder zerschlagen, jedes hätte die Erfahrung gemacht, zu lügen und angelogen zu werden.
    Und deshalb würde jedem ein gewisser Respekt gebühren, ein Respekt, den zu gewähren Exponential sich nicht leisten kann.
    Ana unternimmt einen letzten Versuch. »Diese Digis wären doch immerhin als Angestellte rentabel. Sie könnten …«
    Pearson schüttelt den Kopf.
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