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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Autoren: Shani Boianjiu
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meine Mutter am Hals. Sie wünschte sich nur, dass das Scheuern aufhören möge, aber egal, wie sie den Kragen zurechtrückte, er scheuerte weiter.
    »Meinem Vater geht’s gut. Ich diene als Flugsicherungsleiterin in Scharm El-Scheich«, sagte sie. Als sie es laut aussprach, klang es richtig. Das war sie jetzt. Da fuhr sie jetzt hin. Dort musste sie mit dem Bus hinfahren. Die Busgesellschaft erbrachte für sie eine Dienstleistung. Und der Fahrer auch.
    Der Fahrer war wütend auf ihre Antwort, richtig wütend. Weil sie so selbstsicher geworden war. Das dachte sie jedenfalls, weil es so klang, als würde er keine Witze mehr machen, sondern wäre nur noch wütend.
    »Sag deinem Vater, wenn er weiter trinkt und zu spät zur Arbeit kommt, können wir ihn nicht mehr lange decken, hast du verstanden?«, erklärte der Fahrer meiner Mutter.
    Sie hatte verstanden. Sie war sicher, dass die Haut am Hals inzwischen rot war. Aber sie betastete sie nicht.
    »Ein Haus voller Frauen, aber einem Lahmarsch könnt ihr keine Beine machen«, sagte der Fahrer.
    Meine Mutter lehnte den Kopf ans Fenster. Eine Frau mit Doppelkinn sah mit gerecktem Hals geradeaus, als wäre sie selbst die Busfahrerin. Meine Mutter sah die Frau an, als müsste sie sie nur lange genug ansehen, um nie so wie sie zu werden.
    Meine Mutter war noch nie geflogen und war deshalb gespannt darauf, die Straßen von Tel Aviv aus der Luft zu sehen und zu verfolgen, wie die überfüllten Strände und Hotels unter ihr kleiner wurden. Sie dachte, sie würde den ganzen Flug über aus dem Fenster starren, aber stattdessen schlief sie ein. Sie träumte von ihrem Vater. Er verfolgte sie, wie er sie im richtigen Leben verfolgt hatte, nachdem sie ihre älteste Schwester mit einer Rasierklinge so tief in die Schulter geschnitten hatte, dass sie zum Arzt musste, weil sie durch alle Tücher blutete, mit denen sie die Blutung zu stillen versuchten. Als sie noch klein waren, schnitten meine Mutter und ihre Schwestern sich oft gegenseitig. Das lag daran, dass sie ihre Bleistifte für die Schule mit rostigen Rasierklingen spitzten, weil sie keinen Bleistiftspitzer besaßen. Sie standen um den Mülleimer herum und spitzten, und dann zankten sie sich wegen derselben Sachen wie alle Schwestern. Darüber, wie scheußlich ihre Gesichter und Gerüche füreinander waren, weil sie sich so nah waren, und weil sie sich so ähnlich waren. Der einzige Unterschied war, dass sie beim Zanken Rasierklingen in den Händen hatten.
    Im Traum hatte ihr Vater sie genauso verfolgt wie im richtigen Leben, und er war betrunken, genauso wie im richtigen Leben. Der Unterschied war, dass er im Traum langsam war. Er versuchte, sie einzuholen, und obwohl sie nicht von ihm eingeholt werden wollte, wollte sie auch nicht zu den fünf Frauen gehören, die einem Lahmarsch keine Beine machen konnten, und deshalb lief sie ebenfalls langsam.
    Sie wachte auf, als die Räder auf den Asphalt rumsten und ihren Kopf zur Seite knallen ließen. Als sie einen Blick aus dem Fenster warf, sah sie Flächen von unberührtem feinem Sand, und einen Ozean, der so ruhig dalag, dass sie glaubte, er hätte nur für sie das Wogen eingestellt.

    Meine häufigsten chronischen Probleme nannte meine Mutter Sulas. Im Lauf dieser drei Jahre am Strand musste meine Mutter einmal so viel Mitgefühl aufbringen, dass es versehentlich zur Gewohnheit wurde, und den Rest ihres Lebens kam sie zurecht, ohne sich je auch nur das Geringste zu wünschen. Ich konnte ihr von Problemen erzählen, für die es gar keine Worte gab, Problemen, von denen ich keiner Freundin erzählen konnte, nicht einmal Emuna oder Avishag, und sie fand Worte dafür, nur damit sie Lösungen für sie finden konnte. Meine erste Sula fiel ihr selbst auf. Die musste ich ihr nicht mal erklären, sondern sie erklärte mir mein Problem. Sie erklärte, eine Sula sei eine schlechte Angewohnheit, wie das abergläubische auf Holz klopfen oder das Knabbern an den Fingernägeln. Es sei eine Angewohnheit, von der nur du wusstest, was du damit zu erreichen hofftest, was man anderen aber nicht hätte erklären können. Ihre Erklärung klang einleuchtend. Sie sagte, das wäre das Schlimmste auf der Welt.
    Man muss verstehen, dass jede Sula ein ernsthaftes Problem war. Man konnte sich nicht mehr erinnern, wie man sich ohne dieses Problem gefühlt hatte, und man konnte sich auch kein Leben ohne dieses Problem vorstellen. Fast wie eine Schwangerschaft, wenn man das Baby nicht haben will, oder wenn man
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