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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)
Autoren: Shani Boianjiu
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sich mit einer tödlichen Krankheit angesteckt hat, nur schlimmer, weil niemand davon weiß und weil man jede einzelne Sekunde darunter leidet.
    Meine erste Sula hatte mit meinem Hals zu tun. Genauer gesagt, den Stellen unter meinem Kiefer. Mit fünf Jahren zog ich eines Tages eine Grimasse, die diese Partie dehnte. Von da an fühlte es sich an, als würde ich das unwillkürlich immer machen, und wenn ich in den Spiegel sah, hatte ich Angst, durch das Grimassenziehen würde ich ein Doppelkinn kriegen. Als ich zehn war, hatte ich Angst, ich wäre fett im Gesicht, weil meine Mutter mal gesagt hatte, sobald man zunähme, wäre es egal, ob man wieder abnähme; das Gesicht würde fett bleiben, bis man sterbe. Es wurde schlimmer. Irgendwie redete ich mir ein, wenn ich mir mit den Fingern dreimal unters Kinn schnipsen würde, sodass ich das Schnipsen an der Haut spüren konnte, würde das die Folgen des Grimassenschneidens aufheben. Es gab keinen Grund für diesen Aberglauben, aber er war so stark, dass ich es nicht lassen konnte. Meine Finger schmerzten bald so sehr, dass ich keinen Bleistift halten konnte. Ich verschlang meine Mayo-Senf-Tomate-Sandwichs in der Schule immer schneller, weil ich die Hände wieder frei haben wollte, um wieder mit den Fingern schnipsen zu können. Erst als mich meine Mutter am Abend des ersten Schnees fotografieren wollte, merkte sie es und schrie: »Sula!« Am nächsten Tag musste ich nicht in die Schule und durfte meine argentinischen Seifenopern sehen, während sie mich mit Pita, Joghurt und Clementinen fütterte.
    Ich würde ja gern sagen, dass das Wissen, dass es da draußen jemanden gab, der mich verstand, bei der Überwindung des Problems half, aber das stimmte nicht. Zum Problem mit dem Hals kam hinzu, dass meine Mutter irgendwann sagte, wenn man neben einer Mikrowelle stehe, würden die Augen voneinander wegstreben. Sie sagte es zu meiner Schwester, aber ich hörte es. Die Folge war fast ein halbes Jahr Augen- Sula. Ich rollte die Augen in ihren Höhlen, bis sie kreischten, und länger. Ich konnte nicht mehr fernsehen. Ich bekam so starke Kopfschmerzen, dass ich mich manchmal wieder hinsetzen musste, wenn ich aufgestanden war. In der Dunkelheit meines Schlafzimmers bekam ich Angst, so sehr mit den Augen gerollt zu haben, dass die Dunkelheit meine eigene Blindheit war.
    Als Letztes kamen die Zähne, und die waren am schlimmsten. Die ganzen Sommerferien war ich einmal frei von Sulas, bis ich in einen Maiskolben biss und aus Versehen einen oberen und einen unteren Schneidezahn übereinanderreiben ließ. Der untere Schneidezahn stand irgendwie vor dem oberen, und das war der schlimmste Schmerz, den ich je gespürt hatte, so schlimm, dass ich bald versuchte, genau denselben Schmerz wieder zu erzeugen, nur weil das Warten darauf, dass er sich zufällig wiederholte, schlimmer war als der Schmerz selbst. Und das machte ich wieder und wieder. Bei jeder Bewegung und jedem Schritt liefen Kältewellen durch meinen Körper. Mitten im israelischen August musste ich Pullover tragen. Als es September wurde, wartete ich auf das Unterrichtsende, weil ich das Knirschen nicht ertragen konnte, zu Hause wartete ich auf das Ende des Mittagessens, weil ich das Knirschen nicht ertragen konnte, und dann auf das Ende des Tages und dann auf den Schlaf. Ich wartete und wartete auf eine Erleichterung, die nicht kam.
    »Ich muss damit aufhören. Ich kann so nicht mehr weitermachen«, sagte ich zu meiner Mutter.
    Ich war gelähmt von einem Problem, das nicht einmal real war. Avishag konnte ich nicht davon erzählen und Lea schon gar nicht.
    Meine Mutter sagte: »Yael, ich verstehe, ich verstehe, ich verstehe.« Das sagte sie wieder und wieder. Sie sah mir in die Augen, als sie es sagte. Monatelang schlief mein Vater mit angezogenen Beinen in meinem Bett. Sie verstand mich durch die Nacht. Hätte es niemanden gegeben, der ein Problem verstand, für das mir die Worte fehlten, wäre ich vielleicht verrückt geworden. Minuten hetzten Stunden, die meinen Schlaf hetzten.
    Ich weiß nicht mehr, wann, wie oder warum es aufhörte. Ich weiß noch, dass ich irgendwann an einen Punkt kam, wo ich nur atmen konnte, wenn ich mir den Moment ausmalte, in dem ich nicht mehr an Zähne denken würde, und dass ich irgendwann an einen Punkt kommen würde, wo ich mich nicht einmal mehr erinnern oder mir ausmalen konnte, wie sich ein solcher Moment anfühlte.
    Aber es ging weg. Das weiß ich, denn als die Hals- Sula zurückkam, als ich
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