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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Martha Grimes
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Straßen rauf und dann hinüber, obwohl ich unterwegs an Läden vorbeikam, die ich mochte. Ich fand sie alle irgendwie mysteriös, zum Beispiel Sincells Posamentierwarenhandlung. Schon allein der Ausdruck wirkte wie aus einer Vergangenheit voller rotbejackter Männer und Frauen, voller Pferde und Füchse.
    In Sincells hohen, schmalen Räumen war es passenderweise dunkel und kühl. Im hinteren Raum wurden Schuhe und (stellte ich mir vor) sattbraune Jägerstiefel verkauft. Der vordere Raum war üppig bestückt mit dunklen Seidenkleidern und Dreiteilern für den Herrn. Zwischen den in hohen Glasvitrinen ruhenden Hüten waren bestimmt auch Reiterkappen aus dunklem Samt. Und bei den Spazierstöcken drüben waren Reitgerten. Ich stellte mir das alles gern vor.
    Gleich neben der Posamentierwarenhandlung war McCrorys Kramladen, wo Miss Isabel Barnett ihrer Kleptomanie frönte. Um die Ecke befand sich Souders Apotheke mit der immer gleichen Schaufensterauslage: Eau de Toilette Marke »Abend in Paris« sowie heller Gesichtspuder, der offensichtlich von der unbekannten Trägerin der langen Abendhandschuhe aus blauem Satin benutzt worden war und sich zart aus einer silbernen Puderdose ergoss. Was für eine Geschichte! Aus dem Stegreif fielen mir ein halbes Dutzend Szenen ein, die auf das Parfum und die blauen Handschuhe passten. Die Vorstellung, ich könnte mir all die Geschichten ausdenken und sie niederschreiben, hatte etwas Tröstliches. Es fühlte sich an, als wäre immer ein zweites Ich in der Nähe, eine helfende Freundin.
    An der nächsten Straße etwas dichter beim Rainbow gelegen war der winzige Oak Tree Geschenkladen von Miss Flagler. Gleich daneben, nur getrennt durch einen schmalen Durchgang, befand sich der Kerzenladen, geführt von Miss Flyte, die eine Neigung zum Mysteriösen hatte. Von allen Geschäften war ihres das mysteriöseste, denn das Geflacker der brennenden Kerzen zog sich vom Schaufenster bis ganz nach hinten durch.
    Über jedes dieser Geschäfte gab es etwas zu erzählen, und ich hatte die Idee, dass unsere Zeitung zu jedem einen Beitrag bringen könnte. Wenn ich schon nicht zu jedem eine eigene Geschichte ausgraben konnte, so könnte ich doch meine Eindrücke von ihnen schildern.
    Ich war die jüngste Reporterin, die der Conservative je gehabt hatte. Den Job hatte ich natürlich aufgrund der Tatsache bekommen, dass ich am Spirit Lake beinahe umgebracht worden wäre, und jetzt war ich dabei, das ganze Erlebnis aufzuschreiben. Aber mit »Impressionen von Souders Drugstore«, »Impressionen von der Posamentierwarenhandlung« und so fort könnte ich weiter Redaktionsmitglied sein und noch monatelang berühmt bleiben.
    Ree-Jane wies mit Vorliebe mindestens einmal täglich darauf hin, dass ich ja bloß »Hilfsreporterin, keine wirkliche Journalistin« sei, doch wenn ich bedachte, wie wenig Ree-Janes Leben Bezug zur Wirklichkeit hatte, betrachtete ich es als gerechtfertigt, ihrer Meinung nicht allzu viel Aufmerksamkeit beizumessen.
    Ich ging weiter in Richtung Rainbow.
    Donny Mooma, der Stellvertreter des Sheriffs, stand im Rainbow vor der Kuchenvitrine, in der Hand einen Donut, und unterhielt sich mit Wanda Wayans, der neuen Bedienung. Wir mochten einander nicht, Donny und ich. Er war zu dumm für die Polizeiarbeit, und mir war einfach unbegreiflich, wieso der Sheriff ihn behielt. Vielleicht war Donny »eine politische Ernennung«. Die Moomas waren schon seit mehreren Generationen in der Polizeiarbeit des Distrikts tätig. Ein Mooma war Sheriff gewesen, als das Slade-Baby damals entführt worden war, doch der war inzwischen bestimmt tot, oder vielleicht starben die Moomas ja auch nie, sondern liefen auf ewig in der Weltgeschichte herum. Donny lief jedenfalls herum wie tot.
    Mutmaßlich entführt, sollte ich eigentlich sagen, und auch das mutmaßliche Baby, denn ich war mir ja, wie gesagt, gar nicht sicher, dass es überhaupt ein Baby gegeben hatte. Einer der Gründe, weshalb ich ins Rainbow Café wollte, war, um nachzusehen, ob Miss Isabel Barnett dort war. Ich wollte sie noch mal fragen, ob sie in dem Kinderwagen wirklich Baby Fay gesehen hatte. Ich würde es natürlich etwas höflicher formulieren, denn ich wollte ja nicht unterstellen, dass man sich auf Miss Isabels Wort nicht verlassen konnte. Bloß weil sie Kleptomanin war, hieß das ja noch lange nicht, dass sie nicht zwischen einem leeren Kinderwagen und einem mit einem Baby drin unterscheiden konnte.
    Ich grüßte Wanda, und sie grüßte zurück.
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