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Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Michael Peinkofer
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ihrem Blick aus und blickte nur zu Boden, den Brief noch immer in der Hand. Er hörte ihr Schluchzen, während er selbst in seinem Inneren nur Leere fühlte. Abgrundtiefe, sinnlose Leere.
    »Ich soll zur Testamentseröffnung nach Edinburgh kommen«, führte er schließlich weiter aus.
    »Und?« Mary blickte ihn fragend an. Tränen rannen über ihr von Schmerz und Trauer gezeichnetes Gesicht.
    »Ich denke, ich bin es meinem Onkel schuldig«, stellte Quentin sachlich fest.
    »Dann werde ich dich begleiten.«
    Überrascht sah Quentin zu ihr auf. Es war der erste Entschluss, den sie seit Monaten fasste, und so anerkennenswert dies einerseits war, so konfus und überstürzt war es andererseits.
    »In deinem Zustand?«, fragte er dagegen. »Hast du vergessen, was für eine Strapaze die Überfahrt ist? Noch dazu um diese Jahreszeit! Wir werden stürmische See haben.«
    »Wenn ich mich recht entsinne, habe ich den Seegang weit besser vertragen als du«, entgegnete Mary kühl und wischte flüchtig ihre Tränen weg. Sie gab sich Mühe, entschlossen zu wirken und sich als Herrin ihrer Entscheidungen zu zeigen. Aber er wusste es besser …
    »Das bestreite ich nicht«, versicherte er, »und ich kann wahrlich nicht behaupten, dass ich mich auf diese Reise freue. Aber es ist unstrittig, dass du der Anstrengung, die eine solche Unternehmung darstellt, im Augenblick nicht gewachsen wärst. Oder willst du das ernstlich bestreiten?«
    »Im Augenblick«, wiederholte sie. Ihre Haltung versteifte sich, und ihm war klar, dass sie ihn durchschaute. Er war nie ein guter Lügner gewesen, und sie war entschieden zu klug, als dass er ausgerechnet sie hätte täuschen können. Ihr Zustand währte schon zu lange, von einer momentanen Verstimmung konnte beileibe nicht die Rede sein. Quentin mochte von einem Augenblick gesprochen haben – in Wahrheit bezweifelte er, dass Mary jemals wieder die Frau werden würde, die er kennen und lieben gelernt hatte.
    »Es ist besser so, glaub mir«, verharrte er dennoch bei seiner Meinung. »Ich werde Mrs. Bentley bitten, dir regelmäßig Gesellschaft zu leisten. Und natürlich werde ich dafür sorgen, dass es dir in meiner Abwesenheit an nichts fehlt.«
    »Aber ich …« Widerstand flackerte in ihren Augen auf, aber nur für einen kurzen Moment. Dann wandte sie sich auf der Treppe um und ging nach oben. Dabei weinte sie wieder, und es war unmöglich zu sagen, ob es der Verlust Sir Walters war, den sie betrauerte, oder der schreckliche Zustand, in den sie verfallen war.
    »Es ist besser so, glaub mir«, gab Quentin ihr mit auf den Weg. Jetzt erst merkte er, wie sehr seine Beine zitterten. Er ließ sich auf der untersten Stufe nieder, las noch einmal den Brief des Notars, aufmerksam und Wort für Wort. Erst jetzt sank die Bedeutung des Schreibens ganz langsam in sein Bewusstsein.
    Sir Walter Scott war tot – jener Mann, der nicht nur sein Onkel gewesen war, sondern auch sein väterlicher Freund und Mentor, dem er so unendlich viel zu verdanken hatte. Als unerfahrener Jungspund war Quentin einst zu Sir Walter gekommen, um ihm bei seiner Arbeit als Assistent zur Hand zu gehen. Als selbstbewusster junger Mann hatte er Abbotsford wieder verlassen. Obwohl sie einander zuletzt vor drei Jahren gesehen und seither nur einige Briefe gewechselt hatten, hatte sich Quentin seinem Onkel nach wie vor tief verbunden gefühlt – wie sehr, wurde ihm erst in diesem Augenblick klar.
    Zu echter Trauer war er dennoch nicht fähig.
    Nicht mehr …
    Quentin atmete tief ein und aus. Dann faltete er das Schreiben in einem jähen Entschluss wieder zusammen und ging ebenfalls nach oben, um Vorbereitungen für die bevorstehende Reise zu treffen.
    Die schemenhafte Gestalt, die draußen vor dem von Eis bedeckten Fenster aufgetaucht war, bemerkte er nicht.
    In dieser Nacht fand Mary keine Ruhe.
    Wann immer sie in den Schlaf fiel, war er nur leicht und von Albträumen durchsetzt. Wovon sie handelten, vermochte Mary nicht zu sagen; es waren nur flüchtige Eindrücke, in Bilder gekleidete Ängste, die sie weder zu kontrollieren noch zu deuten vermochte. Aber wenn sie dann die Augen aufschlug, galt ihr erster Gedanke Sir Walter.
    Noch lange bevor sie ihm persönlich begegnet war, hatte sie ihn bereits gekannt – in Gestalt seiner Romane, die sie als junge Frau geradezu verschlungen hatte, und seiner Heldenfiguren, die aus jeder Pore den Edelmut und die noble Gesinnung ihres Schöpfers atmeten. Schon damals hatte sie das Gefühl
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