Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Autoren: Katherine Webb
Vom Netzwerk:
hereinwehende Wind spielte mit ihrem Haar und ließ sie frösteln, aber sie schloss trotzdem die Augen, um ihn zu riechen, denn der Geruch der See war ihr so lieb, so vertraut. So roch alles, was sie kannte – ihr Zuhause und ihr Gefängnis und sie selbst. Als sie die Augen wieder öffnete, schnappte sie nach Luft.
    Celeste war da. Dort draußen auf den Klippen stand sie, mit dem Rücken zum Haus, dem Meer zugewandt, im silbrigen Mondlicht. Das Wasser des Ärmelkanals tobte in aufgewühlten Wogen, Gischt wurde von weißen Schaumkäm men hochgepeitscht und an die Küste geschleudert. Sie spürte ein paar Tröpfchen davon hart und beißend im Gesicht. Wie kam Celeste dorthin? Nachdem sie vor so vielen, vielen Jahren spurlos verschwunden war? Aber sie war es, ganz sicher. Dieser lange, gerade Rücken, der geschmeidig in ihre üppig gerundeten Hüften überging, die ausgestreckten Arme mit den gespreizten Fingern. Ich spüre gern, wie die Luft sich bewegt. Ihre Worte, gesprochen mit diesem seltsamen, kehligen Akzent, schienen wie ein Flüstern durch das Fenster zu dringen. Ihr dunkles Haar und das lange, unförmige Kleid flatterten hinter ihr im Wind. Der zarte Stoff presste sich gegen ihren Körper und zeichnete seine Konturen nach. Dann tauchte plötzlich ein ganz deutliches Bild auf – von ihm, wie er Celeste skizzierte und immer wie der kurz aufblickte mit dieser beängstigenden Intensität, dieser be harr lichen Konzentration. Sie schloss die Augen wieder und kniff sie fest zu. Die Erinnerung war heiß geliebt und unerträglich zugleich.
    Als sie die Augen wieder öffnete, saß sie in ihrem Sessel, und das Fenster schepperte, der Wind wehte noch immer herein. War sie also gar nicht aufgestanden? War sie nicht zum Fenster gegangen und hatte Celeste dort draußen gesehen? Sie wusste nicht mehr, was wirklich gewesen und was nur ein Traum war. Ihr Herz hämmerte bei dem Gedanken, dass Celeste zurückgekommen war – dass sie herausgefunden hatte, was wirklich geschehen war. Im Geiste blitzte der hitzige, zornige Blick der Frau vor ihr auf, der alles sah, der sie einfach so durchschaute. Und plötzlich wusste sie es. Eine Vorahnung, hörte sie die Stimme ihrer Mutter sagen, spürte ihren säuerlichen Atem so deutlich am Ohr, dass sie sich nach Valentina umsah. Schatten lagen in den Ecken des Raumes und starrten sie an. Ihre Mutter hatte manchmal behauptet, diese Gabe zu besitzen, und auch bei ihrer Tochter stets nach Anzeichen dafür gesucht, jeden Hauch von Hellsichtigkeit gefördert. Vielleicht ge schah nun endlich das, worauf Valentina gehofft hatte, denn in diesem Augenblick wusste sie, dass Veränderung kam. So sicher, wie die See tief war. Nach all den langen Jahren kam der Wandel. Jemand kam. Die Angst schlang ihre schweren Arme um sie.
    Die frühe Morgensonne schien durch die hohen Schaufenster der Galerie herein und wurde blendend vom Boden zurückgeworfen. Es war bereits Spätsommer, aber diese Sonne versprach einen schönen, warmen Tag. Doch als Zach die Eingangstür öffnete, lag eine steinerne Kühle in der Luft, die noch vor einer Woche nicht zu spüren gewesen war, ein feuchter Geruch, der den Herbst ankündigte. Zach atmete tief ein und reckte das Gesicht der Sonne entgegen. Herbst. Das Ende des Sommers, das Ende der glücklichen Schwebe, die er so genossen hatte, indem er so tat, als würde sich nichts ändern. Heute war der letzte Tag, und Elise würde abreisen.
    Er blickte in beide Richtungen die Straße entlang. Es war erst acht Uhr, und auf dieser Straße von Bath war kein einziger Mensch zu sehen. Die Gilchrist Gallery lag in einer schmalen Seitenstraße, nur etwa hundert Meter von der Great Pulteney Street entfernt, einer großen Hauptstraße. Nah genug, um leicht gefunden zu werden, hatte er gedacht. Nah genug, dass die Leute sein Ladenschild entdecken wür den, wenn sie dort vorbeigingen und zufällig einen Blick in die Seitenstraße warfen. Und das Schild war auch von der Kreuzung aus gut zu sehen – er hatte sich selbst vergewissert. Nur leider blickten überraschend wenige Leute nach links oder rechts, wenn sie die Great Pulteney Street entlanggingen. Aber es war ohnehin noch zu früh für einen Einkaufsbummel, beruhigte er sich. Die Menschen, die am Ende der Straße in Strömen die Kreuzung überquerten, waren ihrer Kleidung und dem zielstrebig eiligen Gang nach auf dem Weg zur Arbeit. Ihre gedämpften Schritte hallten durch die stille Luft der schmalen Straße zu ihm herauf, durch scharf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher