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Das Urteil

Das Urteil

Titel: Das Urteil
Autoren: Franz Kafka
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und die Dir nächstens selbst
    schreiben wird, eine aufrichtige Freundin, was für einen Junggesel-
    len nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich weiß, es hält Dich vielerlei
    von einem Besuche bei uns zurück, wäre aber nicht gerade meine
    Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle Hindernisse über
    den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein mag, handle ohne
    alle Rücksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung.«
    Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht
    dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. Einem
    Bekannten, der ihn im Vorübergehen von der Gasse aus gegrüßt
    hatte, hatte er kaum mit einem abwesenden Lächeln geantwortet.
    Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus sei-
    nem Zimmer quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines
    Vaters, in dem er schon seit Monaten nicht gewesen war. Es bestand
    auch sonst keine Nötigung dazu, denn er verkehrte mit seinem
    Vater ständig im Geschäft, das Mittagessen nahmen sie gleichzei-
    tig in einem Speisehaus ein, abends versorgte sich zwar jeder nach
    Belieben, doch saßen sie dann meistens, wenn nicht Georg, wie es
    am häufigsten geschah, mit Freunden beisammen war oder jetzt
    seine Braut besuchte, noch ein Weilchen, jeder mit seiner Zeitung,
    im gemeinsamen Wohnzimmer. Georg staunte darüber, wie dun-
    kel das Zimmer des Vaters selbst an diesem sonnigen Vormittag
    war. Einen solchen Schatten warf also die hohe Mauer, die sich
    jenseits des schmalen Hofes erhob. Der Vater saß beim Fenster in
    einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die selige Mutter
    ausgeschmückt war, und las die Zeitung, die er seitlich vor die
    Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen
    suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem
    nicht viel verzehrt zu sein schien.
    »Ah, Georg!« sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein
    schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten
    ihn – »Mein Vater ist noch immer ein Riese«, sagte sich Georg.
    »Hier ist es ja unerträglich dunkel«, sagte er dann. »Ja, dunkel ist
    es schon«, antwortete der Vater.
    »Das Fenster hast du auch geschlossen?«
    »Ich habe es lieber so.«
    »Es ist ja ganz warm draußen«, sagte Georg, wie im Nachhang
    zu dem Früheren, und setzte sich.
    Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf
    einen Kasten.
    »Ich wollte dir eigentlich nur sagen«, fuhr Georg fort, der den
    Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, »daß ich nun
    doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe.« Er zog den
    Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.
    »Nach Petersburg?« fragte der Vater.
    »Meinem Freunde doch«, sagte Georg und suchte des Vaters
    Augen. – Im Geschäft ist er doch ganz anders, dachte er, wie er
    hier breit sitzt und die Arme über der Brust kreuzt.
    »Ja. Deinem Freunde«, sagte der Vater mit Betonung. »Du weiß
    doch, Vater, daß ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen
    wollte. Aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst.
    Du weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von
    anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn
    das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich
    ist – das kann ich nicht hindern – , aber von mir selbst soll er es
    nun einmal nicht erfahren.«
    »Und jetzt hast du es dir wieder anders überlegt?« fragte der
    Vater, legte die große Zeitung auf den Fensterbord und auf die
    Zeitung die Brille, die er mit der Hand bedeckte.
    »Ja, jetzt habe ich es mir wieder überlegt. Wenn er mein guter
    Freund ist, sagte ich mir, dann ist meine glückliche Verlobung
    auch für ihn ein Glück. Und deshalb habe ich nicht mehr gezögert,
    es ihm anzuzeigen. Ehe ich jedoch den Brief einwarf, wollte ich es
    dir sagen.«
    »Georg«, sagte der Vater und zog den zahnlosen Mund in die
    Breite, »hör einmal! Du bist wegen dieser Sache zu mir gekommen,
    um dich mit mir zu beraten. Das ehrt dich ohne Zweifel. Aber es
    ist nichts, es ist ärger als nichts, wenn du mir jetzt nicht die volle
    Wahrheit sagst. Ich will nicht Dinge aufrühren, die nicht hier-
    her gehören. Seit dem Tode unserer teueren Mutter sind gewisse
    unschöne Dinge vorgegangen. Vielleicht kommt auch für sie die
    Zeit, und vielleicht kommt sie früher, als wir denken. Im Geschäft
    entgeht mir manches, es wird mir vielleicht nicht verborgen – ich
    will jetzt gar nicht die Annahme machen, daß es mir verborgen
    wird
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