Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Urteil

Das Urteil

Titel: Das Urteil
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
an
    dieser Uhrkette.
    Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich selbst
    zu und zog dann die Bettdecke noch besonders weit über die Schul-
    ter. Er sah nicht unfreundlich zu Georg hinauf.
    »Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?« fragte Georg und
    nickte ihm aufmunternd zu.
    »Bin ich jetzt gut zugedeckt?« fragte der Vater, als könne er nicht
    nachschauen, ob die Füße genug bedeckt seien.
    »Es gefällt dir also schon im Bett«, sagte Georg und legte das
    Deckzeug besser um ihn.
    »Bin ich gut zugedeckt?« fragte der Vater noch einmal und schien
    auf die Antwort besonders aufzupassen. »Sei nur ruhig, du bist gut
    zugedeckt.« »Nein!« rief der Vater, daß die Antwort an die Frage
    stieß, warf die Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augen-
    blick im Fluge sich ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur
    eine Hand hielt er leicht an den Plafond. »Du wolltest mich zudek-
    ken, das weiß ich, mein Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch
    nicht. Und ist es auch die letzte Kraft, genug für dich, zuviel für
    dich. Wohl kenne ich deinen Freund. Er wäre ein Sohn nach mei-
    nem Herzen. Darum hast du ihn auch betrogen die ganzen Jahre
    lang. Warum sonst? Glaubst du, ich habe nicht um ihn geweint?
    Darum doch sperrst du dich in dein Büro, niemand soll stören, der
    Chef ist beschäftigt – nur damit du deine falschen Briefchen nach
    Rußland schreiben kannst. Aber den Vater muß glücklicherweise
    niemand lehren, den Sohn zu durchschauen. Wie du jetzt geglaubt
    hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt, daß du dich
    mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich nicht,
    da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen!«
    Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger
    Freund, den der Vater plötzlich so gut kannte, ergriff ihn wie noch
    nie. Verloren im weiten Rußland sah er ihn. An der Türe des leeren,
    ausgeraubten Geschäftes sah er ihn. Zwischen den Trümmern der
    Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er
    gerade noch. Warum hatte er so weit wegfahren müssen!
    »Aber schau mich an!« rief der Vater, und Georg lief, fast zerstreut,
    zum Bett, um al es zu fassen, stockte aber in der Mitte des Weges.
    »Weil sie die Röcke gehoben hat«, fing der Vater zu flöten an,
    »weil sie die Röcke so gehoben hat, die widerliche Gans«, und er
    hob, um das darzustellen, sein Hemd so hoch, daß man auf sei-
    nem Oberschenkel die Narbe aus seinen Kriegsjahren sah, »weil
    sie die Röcke so und so und so gehoben hat, hast du dich an sie
    herangemacht, und damit du an ihr ohne Störung dich befriedigen
    kannst, hast du unserer Mutter Andenken geschändet, den Freund
    verraten und deinen Vater ins Bett gesteckt, damit er sich nicht
    rühren kann. Aber kann er sich rühren oder nicht?« Und er stand
    vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor Einsicht.
    Georg stand in einem Winkel, möglichst weit vom Vater. Vor
    einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen, alles vollkom-
    men genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwe-
    gen, von hinten her, von oben herab überrascht werden könne.
    Jetzt erinnerte er sich wieder an den längst vergessenen Entschluß
    und vergaß ihn, wie man einen kurzen Faden durch ein Nadelöhr
    zieht.
    »Aber der Freund ist nun doch nicht verraten!« rief der Vater,
    und sein hin und her bewegter Zeigefinger bekräftigte es. »Ich war
    sein Vertreter hier am Ort.«
    »Komödiant!« konnte sich Georg zu rufen nicht enthalten,
    erkannte sofort den Schaden und biß, nur zu spät, – die Augen
    erstarrt – in seine Zunge, daß er vor Schmerz einknickte.
    »Ja, freilich habe ich Komödie gespielt! Komödie! Gutes Wort!
    Welcher andere Trost blieb dem alten verwitweten Vater? Sag
    und für den Augenblick der Antwort sei du noch mein lebender
    Sohn was blieb mir übrig, in meinem Hinterzimmer, verfolgt vom
    ungetreuen Personal, alt bis in die Knochen? Und mein Sohn ging
    im Jubel durch die Welt, schloß Geschäfte ab, die ich vorbereitet
    hatte, überpurzelte sich vor Vergnügen und ging vor seinem Vater
    mit dem verschlossenen Gesicht eines Ehrenmannes davon! Glaubst
    du, ich hätte dich nicht geliebt, ich, von dem du ausgingst?«
    Jetzt wird er sich vorbeugen, dachte Georg, wenn er fiele und
    zerschmetterte! Dieses Wort durchzischte seinen Kopf.
    Der Vater beugte sich vor, fiel aber nicht. Da Georg sich nicht
    näherte, wie er erwartet hatte, erhob er sich wieder.
    »Bleib,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher