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Das Urteil

Das Urteil

Titel: Das Urteil
Autoren: Franz Kafka
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– , ich bin nicht mehr kräftig genug, mein Gedächtnis läßt
    nach, ich habe nicht mehr den Blick für alle die vielen Sachen. Das
    ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens hat mich der Tod
    unseres Mütterchens viel mehr niedergeschlagen als dich. – Aber
    weil wir gerade bei dieser Sache halten, bei diesem Brief, so bitte
    ich dich, Georg, täusche mich nicht. Es ist eine Kleinigkeit, es ist
    nicht des Atems wert, also täusche mich nicht. Hast du wirklich
    diesen Freund in Petersburg?«
    Georg stand verlegen auf. »Lassen wir meine Freunde sein. Tau-
    send Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater. Weißt du, was ich
    glaube? Du schonst dich nicht genug. Aber das Alter verlangt seine
    Rechte. Du bist mir im Geschäft unentbehrlich, das weißt du ja
    sehr genau, aber wenn das Geschäft deine Gesundheit bedrohen,
    sollte, sperre ich es noch morgen für immer. Das geht nicht. Wir
    müssen da eine andere Lebensweise für dich einführen. Aber von
    Grund aus. Du sitzt hier im Dunkeln und im Wohnzimmer hät-
    test du schönes Licht. Du nippst vom Frühstück, statt dich ordent-
    lich zu stärken. Du sitzt bei geschlossenem Fenster, und die Luft
    würde dir so gut tun. Nein, mein Vater! Ich werde den Arzt holen,
    und seinen Vorschriften werden wir folgen. Die Zimmer werden
    wir wechseln, du wirst ins Vorderzimmer ziehen, ich hierher. Es
    wird keine Veränderung für dich sein, alles wird mit übertragen
    werden. Aber das alles hat Zeit, jetzt lege dich noch ein wenig ins
    Bett, du brauchst unbedingt Ruhe. Komm, ich werde dir beim
    Ausziehn helfen, du wirst sehn, ich kann es. Oder willst du gleich
    ins Vorderzimmer gehn, dann legst du dich vorläufig in mein Bett.
    Das wäre übrigens sehr vernünftig.«
    Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf mit dem
    struppigen weißen Haar auf die Brust hatte sinken lassen.
    »Georg«, sagte der Vater leise, ohne Bewegung.
    Georg kniete sofort neben dem Vater nieder, er sah die Pupillen
    in dem müden Gesicht des Vaters übergroß in den Winkeln der
    Augen auf sich gerichtet.
    »Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spaß-
    macher gewesen und hast dich auch mir gegenüber nicht zurückge-
    halten. Wie solltest du denn gerade dort einen Freund haben! Das
    kann ich gar nicht glauben.«
    »Denk doch einmal nach, Vater«, sagte Georg, hob den Vater
    vom Sessel und zog ihm, wie er nun doch recht schwach dastand,
    den Schlafrock aus, »jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war
    mein Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch, daß du
    ihn nicht besonders gern hattest. Wenigstens zweimal habe ich
    ihn vor dir verleugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer saß.
    Ich konnte ja deine Abneigung gegen ihn ganz gut verstehn, mein
    Freund hat seine Eigentümlichkeiten. Aber dann hast du dich doch
    auch wieder ganz gut mit ihm unterhalten. Ich war damals noch so
    stolz darauf, daß du ihm zuhörtest, nicktest und fragtest. Wenn du
    nachdenkst, mußt du dich erinnern. Er erzählte damals unglaubli-
    che Geschichten von der Russischen Revolution. Wie er zum Beispiel
    auf einer Geschäftsreise in Kiew bei einem Tumult einen Geistli-
    chen auf einem Balkon gesehen hatte, der sich ein breites Blutkreuz
    in die flache Hand schnitt, diese Hand erhob und die Menge anrief.
    Du hast ja selbst diese Geschichte hier und da wiedererzählt.«
    Währenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder nie-
    derzusetzen und ihm die Trikothose, die er über den Leinenunter-
    hosen trug, sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim Anblick
    der nicht besonders reinen Wäsche machte er sich Vorwürfe, den
    Vater vernachlässigt zu haben. Es wäre sicherlich auch seine Pflicht
    gewesen, über den Wäschewechsel seines Vaters zu wachen. Er
    hatte mit seiner Braut darüber, wie sie die Zukunft des Vaters ein-
    richten wollten, noch nicht ausdrücklich gesprochen, denn sie hat-
    ten stillschweigend vorausgesetzt, daß der Vater allein in der alten
    Wohnung bleiben würde. Doch jetzt entschloß er sich kurz mit
    aller Bestimmtheit, den Vater in seinen künftigen Haushalt mitzu-
    nehmen. Es schien ja fast, wenn man genauer zusah, daß die Pflege,
    die dort dem Vater bereitet werden sollte, zu spät kommen könnte.
    Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches
    Gefühl hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett hin
    merkte, daß an seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spielte.
    Er konnte ihn nicht gleich ins Bett legen, so fest hielt er sich
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