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Das Tor zur Hölle - Hellraiser

Das Tor zur Hölle - Hellraiser

Titel: Das Tor zur Hölle - Hellraiser
Autoren: Clive Barker
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allein im Haus war und sich mit dem Auspacken verschiedener persönlicher Dinge beschäftigte, war sie auf mehrere Fotoalben von Rory gestoßen. Viele davon enthielten relativ neue Bilder von ihnen beiden beim gemeinsamen Urlaub in Athen und auf Malta. Doch zwischen den durchsichtig lächelnden Gesichtern vergraben fand sie einige Bilder, die sie nie zuvor gesehen hatte (hatte Rory sie vor ihr versteckt gehalten?): Familienporträts, die vor Jahrzehnten entstanden waren. Ein Hochzeitsfoto von seinen Eltern; das schwarzweiße Bild im Lauf der Jahre von der Patina seltsamer Grautöne verwischt. Bilder von Taufen, auf denen stolze Paten von Spitzentüchern bedeckte Babys auf den Armen hielten.
    Und dann Fotos von den beiden Brüdern; als Wickelkinder mit großen Augen; als griesgrämige Schüler auf Schnappschüssen von Sportfesten und Schulfeiern. Dann, als die Scheu der von Pickeln geplagten Jugend vor dem Blitzlicht die Oberhand gewann, wurde die Anzahl der Bilder geringer – bis die Pubertät überwunden war und die beiden sich als Prinzen fühlten.
    Als sie Frank so auf den leuchtenden Farbfotos sah, wie er für die Kamera Faxen machte, errötete sie unwillkürlich. Wie kaum anders zu erwarten, hatte er schon als Knabe einen ausgeprägten Hang zum Exhibitionismus gehabt; immer á la mode gekleidet, während Rory im Vergleich dazu schlampig wirkte. Es schien ihr, als wäre das spätere Leben der beiden Brüder in diesen frühen Porträtaufnahmen vorgezeichnet: Frank – das lächelnde, verführerische Chamäleon; Rory – der aufrechte Bürger.
    Schließlich hatte sie die Bilder weggepackt und dann beim Aufstehen festgestellt, daß über ihre geröteten Wangen Tränen liefen. Keine Tränen der Reue. Dafür hatte sie keine Verwendung. Es war Wut, die in ihren Augen brannte. Irgendwie hatte sie, ganz unvermittelt zwischen zwei Atemzügen, ihre eigene Identität verloren.
    Und sie wußte auch mit absoluter Sicherheit zu sagen, wann sie das erste Mal gespürt hatte, daß sie sich aus den Händen glitt. Als sie auf dem Bett aus Hochzeitsspitze gelegen hatte, während Frank ihren Hals mit Küssen bedeckte.
    Manchmal ging sie hinauf in das Zimmer mit den vernagelten Jalousien.
    Bis jetzt hatten sie nur wenig an den oberen Stockwerken gemacht, sondern sich stattdessen darauf konzentriert, den Besuchern zugängliche Räume in Ordnung zu bringen. Das Zimmer war deshalb unberührt geblieben – unbetreten, um genau zu sein, von ihrem seltenen Verweilen dort einmal abgesehen.
    Sie war nicht sicher, warum sie hinaufging; ebensowenig, wie sie sich das seltsame Gemisch von Gefühlen erklären konnte, die sie überfielen, wenn sie dort war. Doch da war etwas an dem dunklen Raum, das ihr Trost spendete: Er war eine Art Gebärmutter; der Schoß einer toten Frau. Manchmal, wenn Rory in der Arbeit war, ging sie einfach hinauf und saß ohne an etwas zu denken in der Stille; oder zumindest dachte sie an nichts, das sie hätte in Worte fassen können.
    Diese kurzen Besuche erfüllten sie mit einem seltsamen Schuldgefühl, und sie versuchte, sich von dem Zimmer fernzuhalten, wenn Rory in der Nähe war. Doch es war nicht immer möglich. Manchmal führten sie ihre Füße aus eigenem Antrieb dorthin.
    So war es an jenem Samstag geschehen, dem Tag des Blutes.
    Sie hatte Rory dabei zugeschaut, wie er mit einem Meißel eine Farbschicht nach der anderen von den Angeln der Küchentür abschlug, als sie plötzlich vermeinte, den Ruf des Zimmers zu vernehmen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß er ganz in seine Arbeit versunken war, ging sie nach oben.
    Dort war es wie immer kühler als gewöhnlich, und sie war dankbar dafür, legte ihre Hand an die Wand und preßte dann ihre abgekühlte Handfläche gegen die Stirn.
    »Es hat keinen Zweck«, murmelte sie vor sich hin, während sie dabei an den Mann dachte, der da unten die Küchentür bearbeitete. Sie liebt ihn nicht; ebensowenig wie er, unter der Vernarrtheit in ihr schönes Gesicht, sie liebte. Er arbeitete mit einem Meißel in seiner eigenen kleinen Welt; sie litt hier, weit weg von ihm.
    Ein Windzug packte die Hintertür unten. Sie hörte, wie sie zuschlug.
    Das Geräusch störte Rorys Konzentration. Der Meißel sprang ab und bohrte sich tief in den Daumen seiner linken Hand. Er schrie auf, während eine Fontäne roten Blutes hervorschoß. Der Meißel fiel zu Boden.
    »Hölle und Verdammnis!«
    Sie hörte es, reagierte aber nicht. Zu spät tauchte sie durch das Meer ihrer Melancholie
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