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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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allmählich nach?«
    »So viele sind es nicht mehr. Aber es ist trotzdem noch immer herzzerreißend … einige haben geglaubt, sie kämen davon …«
    »Gibt man ihnen keine Beruhigungsmittel?«
    »Doch, schon. Aber die Angehörigen …«
    »Joe hat gemeint, es hätte keinen Sinn, die Kranken zu besuchen.«
    »Ich nehme an, das hilft ihnen, es zu begreifen. Die Leute wollen es einfach nicht wahrhaben.«
    »Kannst du überhaupt etwas tun?«
    Mandy zuckte mit den Schultern. »Sie werden auf einer Trage durch den Haupteingang reingetragen und kommen hinten im Sarg wieder raus.«
    Mum sah mich an. Sie und Dad hörten auf, über solche Sachen zu reden, wenn sie glaubten, ich hörte ihnen zu. Als ob MTS einfach verschwinden würde, wenn wir alle den Kopf in den Sand steckten. Mandy bemerkte ihren Blick und sprach mich direkt an. »Das Schlimmste dabei sind eigentlich die Schuldgefühle.«
    »Weil sie sterben und du weiterlebst?« Ich wusste, dass sie noch immer traurig war wegen ihrer Fehlgeburt.
    »Man fragt sich, weshalb unschuldige Menschen sterben. Aber es ist komplizierter …«
    »Mandy …«, sagte meine Mum.
    »Mach dich nicht lächerlich, sie ist kein Kind mehr.«
    Mum schwieg.
    »Ich habe beschlossen, ein Kind zu bekommen, durch künstliche Befruchtung. Ich habe mir in der Klinik einen Termin geben lassen. Aber dann …«
    »Dann hast du von MTS erfahren?«
    »Nein. Der Termin wurde abgesagt. Sie haben alle Termine kassiert, noch ehe das in den Nachrichten kam.«
    »Es war offensichtlich, dass da etwas nicht stimmte«, sagte meine Mum. »Gott sei Dank haben sie schnell reagiert.«
    Mandy saß still da und sah auf ihre langen, schmalen Hände nieder. Sie hatte die Stirn angestrengt in Falten gelegt, und ich merkte, dass sie sich beherrschen musste, um nicht zu weinen.
    »Mandy?« Ich setzte mich auf die Armlehne ihres Sessels und nahm sie in den Arm. Sie legte das Gesicht an meine Schulter, und ich spürte ihren feuchten Atem durchs T-Shirt hindurch. Mum seufzte und ging in die Küche, wo sie Wasser in den Kessel laufen ließ.
    »Es deprimiert mich so«, flüsterte Mandy.
    Mum kam zurück. »Wie wär’s, wenn du dich stattdessen um ältere Kinder kümmern würdest? Geh mal online, da gibt’s ein Register von verwitweten Männern, die Hilfe bei der Kindererziehung suchen.«
    Mandy lachte, als wäre das nicht komisch. »Es gibt auch eine Liste im Zeitungskiosk. Mit Familien, bei denen die Frau … Babysitten, Hausaufgabenbetreuung, Kochen, man kann sich für alle möglichen Dinge eintragen. Alles außer sexuelle Dienstleistungen.«
    »Würde es dir nicht vielleicht guttun, dich um andere Kinder zu kümmern?«
    »Wie soll ich mich um andere Kinder kümmern?«
    »Aber du hast dich doch auch um mich gekümmert!«, warf ich ein. »Du warst geil.«
    Sie lächelte mit feuchten Augen. »Das ist Vergangenheit, Schatz.« Sie wandte sich wieder an Mum. »Wie soll das gehen, wenn die Frau, die sie geboren hat, tot ist? Und ich sie ständig beneiden muss? Man würde mich nicht mal in die Nähe von Kindern lassen.«
    Jetzt stand Mum auf und ging zu Mandy. Sie kniete neben ihrem Sessel nieder. »Komm schon, Liebe«, sagte sie. »Beruhig dich.« Sie riss ein weiteres Blatt von der Küchenrolle ab. »Hast du vielleicht irgendwo Fluppen versteckt?«
    Mandy lachte unter Tränen und sagte: »Im Nachtschrank, oberste Schublade.«
    Mum bedeutete mir mit einem Kopfnicken, ich solle sie holen. Ich ging in Mandys Schlafzimmer, in dem auch Clive geschlafen hatte. Die Vorhänge waren zugezogen, und es roch muffig. Ich öffnete das Fenster und ließ die Abendluft herein. In dem Baum hinter ihrem Haus gurrten die Tauben, und der Frühling kündigte sich an mit dem Duft von feuchter Erde und frischem Laub. Ich dachte daran, wie nett Mandy früher zu mir gewesen war, als ich noch klein war. Sie hatte mir auf besondere Art und Weise das Haar geflochten, und sie und Mum hatten mir gemeinsam Tanzkleider genäht und dabei Spaß gehabt, hatten gekichert wie Sal und ich. Ich wünschte mir, es wäre so geblieben. Ich wünschte, wir wären noch immer alle miteinander glücklich.
    Ich wandte mich im Schlafzimmer um. Auf die purpurrote Wand gegenüber dem Fenster hatte Mandy zwei Steinfenster gemalt, kopiert aus einem Raum der Alhambra in Spanien. Sie war zusammen mit Clive dort gewesen. Die gemalten Fenster waren vergittert, ein schwarzes Flechtwerk mit kleinen gelben Flecken in den Lücken, wie Sonnenschein. Früher fand ich das Bild schön, doch
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