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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier
Autoren: Philip Roth
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verließ, warum ich immerfort an sie denken mußte, warum ich mir ihrer, ob ich mit ihr zusammen war oder nicht, nie sicher sein konnte. Diese Besessenheit war schrecklich. Wenn man betört ist, hilft es, nicht zu viel nachzudenken und diesen Zustand zu genießen. Doch dieses Vergnügen blieb mir versagt: Ich tat nichts anderes als denken - ich dachte nach, ich sorgte mich, ja, ich litt. Konzentriere dich auf dein Vergnügen, befahl ich mir. Warum, wenn nicht zu meinem Vergnügen, habe ich beschlossen, so zu leben, wie ich es tue, mit so wenigen Einschränkungen meiner Unabhängigkeit wie möglich? In meinen Zwanzigern war ich einmal verheiratet - die schlimme erste Ehe, die so schlimm wie die Grundausbildung bei der Armee war, doch danach war ich entschlossen, keine schlimme zweite oder dritte oder vierte Ehe einzugehen. Danach war ich entschlossen, nie wieder im Käfig zu leben.
     

An jenem ersten Abend saßen wir auf dem Sofa und hörten Dvorák.
    Irgendwann stieß Consuela auf ein Buch, das sie interessierte; welches es war, habe ich vergessen, aber diesen Augenblick werde ich niemals vergessen. Sie wandte sich um - ich saß da, wo Sie jetzt sitzen, auf der Ecke des Sofas, und sie saß dort -, und sie drehte den Oberkörper zur Seite und begann, das Buch auf die Armlehne des Sofas gelegt, zu lesen, und weil sie sich nach vorn und zur Seite beugte, zeichnete sich ihr Hintern unter der Kleidung ab - ich konnte seine Form klar erkennen, und es war eine eindeutige Aufforderung. Sie ist eine hochgewachsene junge Frau in einem etwas zu schmalen Körper. Es ist, als würde ihr Körper ihr nicht ganz passen. Allerdings nicht, weil sie zu dick ist. Dabei ist sie keineswegs eine von diesen magersüchtigen Frauen. Man sieht das weibliche Fleisch, und es ist gutes Fleisch, es ist im Überfluß vorhanden - darum nimmt man es ja wahr. Sie lag nicht gerade hingestreckt auf dem Sofa, aber immerhin hatte sie mir ihren Hintern halb zugewandt. Ich kam zu dem Schluß: Eine Frau, die sich ihres Körpers so bewußt ist wie Consuela und etwas Derartiges tut, fordert mich auf zu beginnen. Der sexuelle Instinkt ist noch immer intakt - die kubanische Schicklichkeit hat keinen Einfluß darauf. An diesem mir halb zugewandten Hintern erkenne ich, daß sich dem reinen, unverfälschten Trieb nichts in den Weg stellt. Nichts von dem, worüber wir gesprochen haben, nichts von dem, was ich mir über ihre Familie habe anhören müssen, stellt sich dem Trieb in den Weg. Trotz allem weiß sie, wie sie mir ihren Hintern zuwenden muß. Auf die urtümliche Weise. Sie präsentiert. Und die Präsentation ist perfekt und verrät mir, daß ich den Drang, diesen Körper zu berühren, jetzt nicht mehr unterdrücken muß.
    Ich begann, ihren Hintern zu streicheln, und das gefiel ihr. Sie sagte: »Das ist eine seltsame Situation. Ich kann nie deine Freundin sein. Aus allen möglichen Gründen. Du lebst in einer anderen Welt.« »In einer anderen Welt?« Ich lachte. »Inwiefern anders?« Und genau hier beginnt man natürlich zu lügen und sagt: »Meine Welt ist nicht so erhaben, falls du das meinst. Nicht so glamourös. Es ist nicht mal eine Welt. Ich bin einmal pro Woche im Fernsehen. Ich bin einmal pro Woche im Radio. Alle paar Wochen erscheint ein Artikel von mir auf den hinteren Seiten einer Zeitschrift, die von höchstens zwanzig Leuten gelesen wird. Meine Sendung? Eine Sonntagmorgen-Kultursendung. Niemand sieht sie sich an. Das ist keine Welt, über die man sich viele Gedanken machen müßte. Ich kann dich ganz leicht in sie einfuhren. Bitte bleib bei mir.«
    Sie sieht aus, als dächte sie nach über das, was ich gesagt habe, aber was für Gedanken könnten das sein? »Na gut«, sagt sie, »fürs erste. Für heute nacht. Aber ich kann nie deine Frau werden.« »Einverstanden«, sagte ich, doch ich dachte: Wer hat sie denn auch gebeten, meine Frau zu werden? Wer hat diese Frage überhaupt aufgeworfen? Ich bin zweiundsechzig, und sie ist vierundzwanzig. Ich streichle bloß ihren Hintern, und sie sagt mir, daß sie nicht meine Frau werden kann? Ich wußte nicht, daß es solche Mädchen überhaupt noch gibt. Sie ist noch traditioneller, als ich dachte. Oder vielleicht eigenartiger, ungewöhnlicher, als ich dachte. Wie ich noch merken sollte, ist Consuela ganz gewöhnlich, aber nicht berechenbar. An ihrem Verhalten ist nichts Mechanisches. Sie ist präzise und geheimnisvoll zugleich und eigenartigerweise voller kleiner Überraschungen. Doch besonders damals,
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