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Das Schwert in Der Stille

Das Schwert in Der Stille

Titel: Das Schwert in Der Stille
Autoren: Lian Hearn
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auf, um Raku tiefer im Wald zu verstecken, doch als ich hochschaute, sah ich, dass die Truppen nicht die Nachhut der Tohan waren. Die Männer trugen Rüstungen und Waffen, doch die Banner waren die der Otori und des Tempels in Terayama. Wer ohne Helm war, hatte einen rasierten Kopf, und in der ersten Reihe erkannte ich den jungen Mann, der uns die Gemälde gezeigt hatte.
    »Makoto!« Ich kletterte den Damm hinauf zu ihm. Er drehte sich um, erfreut und überrascht zugleich.
    »Lord Otori? Bist du das wirklich? Wir haben befürchtet, dass du ebenfalls tot bist. Wir wollen Lord Shigeru rächen.«
    Ich antwortete: »Ich bin auf dem Weg nach Terayama. Ich bringe ihm Iidas Kopf, wie er es mir befohlen hat.«
    Er machte große Augen. »Iida ist schon tot?«
    »Ja, und Inuyama wurde von Arai besiegt. Ihr werdet die Tohan in Kushimoto einholen.«
    »Willst du nicht mit uns reiten?«
    Ich starrte ihn an. Seine Worte erschienen mir sinnlos. Meine Arbeit war fast getan. Ich musste meine letzte Pflicht gegenüber Shigeru erfüllen, dann würde ich in der geheimen Welt des Stamms verschwinden. Aber Makoto konnte natürlich nicht wissen, wofür ich mich entschieden hatte.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Du bist nicht verwundet?«
    Ich verneinte. »Ich muss den Kopf auf Shigerus Grab legen.«
    Makotos Augen funkelten. »Zeig ihn uns!«
    Ich holte den Korb und öffnete ihn. Der Geruch war stärker geworden, und Fliegen hatten sich auf das Blut gesetzt. Die Haut war wächsern grau, die Augen stumpf und blutunterlaufen.
    Makoto fasste den Kopf am Haarknoten, sprang auf einen Stein neben der Straße und zeigte ihn den umstehenden Mönchen. »Seht, was Lord Otori getan hat!«, rief er, und die Männer brachen in lautes Hurrageschrei aus. Eine Welle der Erregung erfasste sie. Ich hörte, wie mein Name ständig wiederholt wurde, während zuerst einer nach dem anderen, dann alle gleichzeitig vor mir in den Staub knieten und sich bis zum Boden verbeugten.
    Kenji hatte Recht: Die Menschen hatten Shigeru geliebt - die Mönche, die Bauern, die meisten aus dem Clan der Otori -, und weil ich ihn gerächt hatte, wurde diese Liebe auf mich übertragen.
    Es schien meine Bürden zu vermehren. Ich wollte diese Schmeichelei nicht. Ich verdiente sie nicht und war nicht in der Lage, ihr gerecht zu werden. Ich verabschiedete mich von den Mönchen, wünschte ihnen Erfolg und ritt weiter, der Kopf lag wieder im Korb.
    Sie wollten mich nicht allein gehen lassen, deshalb kam Makoto mit mir. Er berichtete, wie Yuki mit Shigerus Kopf angekommen war und sie die Trauerfeier vorbereiteten. Das Mädchen musste Tag und Nacht gereist sein, um so bald einzutreffen, und ich dachte mit großer Dankbarkeit an sie.
    Am Abend waren wir im Tempel. Unter der Leitung des alten Priesters sangen die Mönche die Sutren für Shigeru und der Stein war bereits über der Stelle errichtet, wo der Kopf begraben war. Ich kniete mich daneben und legte den Kopf seines Feindes vor ihn. Es war Halbmond. In seinem zarten Licht sahen die Felsen im Sesshugarten aus wie betende Männer. Das Rauschen des Wasserfalls wirkte lauter als am Tag. Darunter konnte ich die Zedern seufzen hören, während die Nachtbrise sie bewegte. Grillen schrillten, und Frösche quakten in den Teichen unter der Kaskade. Flügel schlugen, und ich sah die scheue Sperbereule durch den Friedhof gleiten. Bald würde sie wieder fortziehen, bald würde der Sommer vorbei sein.
    Ich fand, dass es ein schöner Ruheort für Shigerus Geist war. Lange blieb ich am Grab, lautlos flossen die Tränen. Er hatte mir gesagt, dass nur Kinder weinen. Männer ertragen, hatte er gesagt, aber was mir undenkbar erschien, war die Vorstellung, dass ich seinen Platz einnehmen sollte. Ich hätte ihm den tödlichen Schlag nicht versetzen dürfen! Davon war ich überzeugt, und das quälte mich. Ich hatte ihn mit seinem eigenen Schwert enthauptet. Ich war nicht sein Erbe. Ich war sein Mörder.
    Sehnsüchtig dachte ich an das Haus in Hagi mit seinem Lied vom Fluss und von der Welt. Ich wünschte mir, dass meine Kinder dieses Lied hören würden. In seinem sanften Schutz sollten sie aufwachsen. Ich träumte, dass Kaede den Tee in dem Raum bereitete, den Shigeru gebaut hatte, und dass unsere Kinder versuchten, den Nachtigallenboden zu überlisten. Abends würden wir den Reiher beobachten, der in den Garten kam und groß und grau geduldig im Bach stand.
    In den Tiefen des Gartens spielte jemand Flöte. Die melodischen Töne durchbohrten mein
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