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Das Schweigen der Toten

Das Schweigen der Toten

Titel: Das Schweigen der Toten
Autoren: Todd Ritter
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durchs Zimmer.
    Als er die Tür erreichte, zählte er im Stillen bis drei, nahm dann die Hand vom Mund und riss die Tür auf. Harry-Gary stand wenige Schritte vor ihm, der Tür den Rücken zugewandt. Nick zögerte nicht lange und hinkte auf ihn zu.
    «Harry?»
    Erschrocken fuhr der Pfleger herum.
    «Gary.»
    «Entschuldigung.»
    Während er sprach, hob Nick das rechte Bein an. Die Knochen knackten unter dem Gipsverband. Nick versuchte, die Schmerzen zu ignorieren, und machte sich darauf gefasst, dass sie noch schlimmer werden würden.
    Der Gips war so schwer, dass er das Bein nur mit Mühe bewegen konnte, doch ungeachtet aller widrigen Umstände holte er mit dem Bein aus und trat Gary zwischen die Beine.
    Nick wusste, dass er sich damit selbst mehr schadete als seinem Gegenüber. Doch er war darauf vorbereitet, der Pfleger nicht. Gary knickte in der Hüfte ein, worauf Nick ein zweites Mal zutrat und ihm den Gips vor den Kopf wuchtete. Gary war für eine Weile aus dem Verkehr gezogen. Um auf Nummer sicher zu gehen, streifte Nick dem Pfleger die Schlinge über den Kopf, die immer noch an der Stange hing, stieß den Metallstab hinter die Schwelle und zog die Tür zu, sodass die Schlinge in der Falz klemmte. Selbst wenn der Pfleger vorzeitig erwachte, würde er sich nicht von der Stelle bewegen können.
    Nick durchsuchte Garys Taschen und fand einen Autoschlüssel.
    «Danke, Gary», sagte er und tätschelte die Wange des Pflegers. «Bei der nächsten Gelegenheit gebe ich dir ein Bier aus.»
    Er schleppte sich durch den Flur. Vor lauter Aufregung waren die Schmerzen nur noch halb so schlimm. Und seine Entschlossenheit tat ihr Übriges, um sie erträglich zu machen. Er musste jetzt ungesehen die Station verlassen, auf den Parkplatz hinaus und dann zum Sägewerk finden.
    Hoffentlich noch rechtzeitig.
     
    Als er das Skalpell sah, schrie Henry unwillkürlich auf und zerrte dabei an den Nähten, was die Schmerzen explodieren und ihn noch lauter schreien ließ. Martin schien davon keine Notiz zu nehmen. Er putzte das Skalpell am Kittel ab.
    Dann führte er es an die rechte Seite von Henrys Hals und legte das rasierklingenscharfe Blatt an die Haut. Henry kniff in Erwartung des Einschnitts die Augen zu.
    Doch der ließ auf sich warten. Martin zog die Klinge weg.
    «Für meine Schwester wird’s ein Schlag sein», sagte er. «Ich habe dich gewarnt, Henry. Ich habe dir gesagt, du sollst dich von ihr fernhalten. Hast aber nicht auf mich gehört. Jetzt wird es meiner Schwester das Herz brechen.»
    Er setzte das Skalpell wieder an.
    Henry gab ein entsetztes Wimmern von sich, versuchte wieder zu schreien und die Nähte zu sprengen, aber zwei Dutzend Einstiche hinderten ihn daran.
    Martin gab Druck auf das Skalpell. Die Klinge schnitt ihm in die Haut.
    Unter unerträglichen Qualen riss Henry den Mund auf und presste die Zunge zwischen den zitternden Lippen hindurch.
    Die Haut gab nach, die Klinge fuhr ihm kalt und tief ins Fleisch, fast drehte sich ihm der Magen um.
    Henry sperrte den Mund noch weiter auf. Die Nähte, zum Zerreißen gespannt, vibrierten wie angeschlagene Gitarrensaiten.
    Er schloss die Augen, sammelte alle Kraft, die seinem geschundenen Körper verblieben war, und brüllte.
    Der Faden schnitt durch die blutenden Lippen wie durch Gummi, das an der schwächsten Stelle schließlich riss. Der Schrei brach sich Bahn und gellte durch den dunklen Raum. Gleichzeitig spritzte Blut aus der Wunde am Hals über die Schulter und auf den Tisch.
    Henry wurde schwindlig. Ob es am Blutverlust lag oder an seiner Todesangst, wusste er nicht. Sein Körper war wie gelähmt. Der Blick trüb, der Verstand setzte aus. Zwar konnte er den Mund wieder öffnen, aber er fand keine Worte, die dem Unausweichlichen Einhalt hätten bieten können.
    «Nein», murmelten die zerfetzten Lippen. «Nein.»
    «Das hättest du nicht tun sollen», rügte Martin. «Es macht alles nur schlimmer.»
    Er hatte das Skalpell abgelegt und ein anderes Instrument zur Hand genommen. Henry verdrehte die Augen, um einen Blick darauf zu werfen, bedauerte es aber sogleich.
    Es war ein metallener Haken, den Martin nun in die blutende Wunde am Hals einführte. Was Henry dabei empfand, war um einiges schlimmer als der Einschnitt, schlimmer noch als die Nadelstiche in den Lippen. Es war wie eine Invasion, die ein Beben in seinem Körper auslöste.
    «Zuerst fische ich mir die Drosselvene raus», kommentierte Martin und machte sich mit dem Haken im Hals zu schaffen. «Das habe
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