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Das Schweigen der Toten

Das Schweigen der Toten

Titel: Das Schweigen der Toten
Autoren: Todd Ritter
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klang distanziert, was nicht allein den Medikamenten zuzuschreiben war. Er dachte angestrengt nach. Kat sah es ihm an.
    «Du glaubst, dass ich ihn zu Hause nicht antreffen werde, stimmt’s?»
    Er nickte. «Ich glaube, er hat sich an einen Ort verzogen, der abgeschieden genug ist und ihm viel Platz bietet. Er ist irgendwo anders.»
    «Aber wo?» Kat klang verzweifelt. Für Henry Goll lief die Zeit ab. «Hilf mir!»
    «Das tue ich», sagte Nick. «Versetzen wir uns nochmal in Martins Lage.»
    «Er hat uns keine Hinweise gegeben», erwiderte Kat.
    Sie stand so sehr unter Strom, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte und am liebsten sofort in Aktion getreten wäre. Doch Nick bestand darauf, methodisch vorzugehen.
    «Er hat tote Tiere am Fundort der Leichen zurückgelassen», rekapitulierte er. «Womit waren sie ausgestopft?»
    Kat dachte an Caleb Fishers Werkstatt im Souterrain seines Ferienhauses. Er präparierte seine Tiere mit Gussformen. Martin verwandte die traditionelle Methode.
    «Sägemehl.»
    «Stellt sich die Frage nach dem Warum. Warum nicht mit Lumpen, Stroh oder Papier?»
    «Vielleicht, weil er an Sägemehl leichter herankommt.»
    «Richtig», sagte Nick. «Und wo könnte er das Zeug in ausreichenden Mengen finden?»
    Kat erinnerte sich, das Eichhörnchen in Troys Spind untersucht und mit dem Finger eine kleine Probe dessen genommen zu haben, womit die Bauchhöhle gefüllt war. Das Sägemehl hatte nach Kiefer gerochen, nach eben jenem Holz, aus dem auch George Winnicks Sarg geschreinert war.
    Im Stillen ließ sie sich alles durch den Kopf gehen, was sie über die Verbrechen wusste. Grob zusammengezimmerte Särge aus unbehandelten Kieferbrettern. Das Fahrzeug, das Caleb Fisher in der Squall Lane hatte vorbeifahren hören. Ein noch unbekannter Tatort, der abgeschirmt und geräumig sein musste. Und Sägemehl.
    Es gab nur einen Ort, zu dem das alles passte.
    Sie schnappte nach Luft. «Henry ist im alten Sägewerk.»
    Henry brachte nur dieses eine Wort über die Lippen. Sein Gehirn produzierte eine ganze Flut von Worten und Gedankenbruchstücken, die aber nicht den Weg zu seinem Mund fanden. So wiederholte er immer wieder das eine.
    «Nein», ächzte er matt, während sein Peiniger ihn betrachtete. «Nein.»
    Martin schob die Maske über Mund und Nase und ging weg. Henry drehte den Kopf, um ihm nachzublicken, konnte aber nichts mehr erkennen.
    Er lag im Dunkeln und versuchte, eine Vorstellung von seiner Umgebung zu gewinnen. Er war von Wänden umgeben, die weit voneinander entfernt zu sein schienen. Der Geruch von Harz und feuchtem Holz kitzelte ihn in der Nase. Irgendwo tropfte ein Wasserhahn.
    Dann hörte er wieder Schritte. Martin. Er kam zurück.
    Diesmal brachte er Licht mit, eine Kerosinlampe, die er auf einem kleinen Tisch abstellte.
    Jetzt sah Henry endlich, wo er sich befand: in einer Art Scheune mit Bretterwänden, über die sich eine hohe Decke aus alten freiliegenden Balken spannte.
    Martin packte ihn bei den Haaren, schlang ein Seil um seine Stirn und zurrte es so fest, dass Henry den Kopf nicht mehr bewegen konnte.
    «Schön stillhalten!», sagte Martin. «Gleich tut’s weh.» Aus den Augenwinkeln sah Henry eine Nähnadel mit dickem, schwarzem Faden. Als Martin sie in die Hand nahm, blinkte sie im Lampenlicht kurz auf. Dann sah Henry nur noch Martins Knöchel, als er sich mit seinen Händen unter der Nase zu schaffen machte.
    Die Nadelspitze drang durch Henrys Unterlippe. Der Schmerz war schlimmer als erwartet.
    Zuerst war dieser Schmerz nur auf die Einstichstelle konzentriert, pulsierte aber dann, als Martin die Nadel durch das Fleisch zog, in qualvoller Wellenbewegung durch den ganzen Kopf.
    Beim Austritt zwängte sich die Öse durchs Fleisch und zog die Unterlippe von den Zähnen – einem Haken gleich, der den Fisch nicht mehr von der Angel ließ.
    «Nein», stöhnte Henry unter Schmerzen.
    Martin hörte nicht auf und durchstieß nun mit der Nadel die Oberlippe, wo sich die Abfolge von punktuellem und pulsierendem Schmerz wiederholte. Henry schmeckte Blut auf der Zunge und spürte einzelne Tropfen übers Kinn in den Nacken rinnen.
    «Martin.»
    Endlich gelang es ihm, den Namen auszusprechen. Die Schmerzen befeuerten sein Hirn. Weitere Worte bildeten sich auf der Zunge und drängten nach draußen.
    «Warum?», fragte er. «Erklär es mir.»
    Martin zerrte den Faden durch beide Lippen. Es war, als fräße sich eine Made durch seine Haut.
    Er verlangte nach einer Antwort.
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