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Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Silvia Kaffke
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ich dir die Teile auf dem großen Tisch in der Schule zu», sagte Lina. Sie hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht, das Luise von ihren verstorbenen Eltern geerbt hatte. Wenn sie mit ihrer Freundin allein war, konnte sie das tun: sich schräg in eine Sofaecke setzen und das Bein mit dem versteiften Hüftgelenk halb auf das Sofa legen. Auf Stühlen und in anderer Gesellschaft war das Sitzen eher unbequem für sie. Vor Luise musste sie auch den hässlichen Schnürstiefel, dessen Sohle der Schuster trotz eines hohen Absatzes für sie noch hatte erhöhen müssen, auch nicht verstecken.
    Sie liebte diese Nachmittage bei ihrer Freundin. Einmal in der Woche – immer donnerstags – ihre täglichen Aufgaben im Kaufmeister’schen Haushalt hinter sich zu lassen, nicht ständig das Personal an seine Pflichten erinnern zu müssen, keine Ausgaben im Auge behalten, keine Mahlzeiten für sechs Personen und häufige Gäste planen zu müssen und vor allem den Nörgeleien und dem Jammern des quengelnden, kranken Vaters entkommen zu können – das war für sie ein Stückchen Glück, an dem sie eisern festhielt, trotz der vorwurfsvollen Blicke ihrer Schwägerin. Selbst für diesen einen Nachmittag der Woche war Aaltje die Pflege des Schwiegervaters lästig.
    Luise, die jeden Pfennig umdrehen musste bei ihrem schmalen Lehrerinnengehalt und der bescheidenen Rente, die ihr das kleine Erbe ihrer Eltern eingebracht hatte, konnte sich nicht vorstellen, wie sehr Lina sie um ihr Leben beneidete.
    Die beiden kannten sich aus dem dreijährigen Lehrerinnenseminar der Diakonie in Kaiserswerth, dessen Besuch Lina bei ihrer Familie hatte durchsetzen können. Sie hatte damals argumentiert, dass ohnehin kein Mann eine hinkende Frau heiraten würde und sie dort für alle Fälle ein paar nützliche Dinge lernen könnte. Damals schon hatte sie es im Schneidern zu ihrer jetzigen Meisterschaft gebracht.
    Tatsächlich hatte sie sich nach Abschluss der Ausbildung ohne Wissen ihres Vaters und Bruders an mehreren Schulen, aber auch um Privatstellen beworben, war aber jedes Mal aufgrund ihres Gebrechens abgelehnt worden. Als dann noch ihre Mutter starb, war ihr zukünftiger Lebensweg besiegelt. Und auch die Frau ihres Bruders hatte ihre Rolle innerhalb der Familie nie in Frage gestellt.
    So wie Luise leben, als Lehrerin an der kleinen privaten Höhere-Töchter-Schule, bescheiden zwar, aber von niemandem abhängig, das war ein Traum, der in den letzten Jahren in weite Ferne gerückt war. Die schwere Erkrankung ihres Vaters hatte es ihr endgültig unmöglich gemacht, das Elternhaus zu verlassen. Ganz abgesehen davon, dass sie als alleinstehende Frau unter der Vormundschaft ihrer Familie stand.
    «Und wie geht es deinem Vater?», fragte Luise und riss Lina damit aus ihren Gedanken.
    «Nicht gut. Das Zimmer hat er jetzt seit Wochen nicht mehr verlassen, nicht einmal an seinem Geburtstag. Mal zittern ihm alle Glieder, dann ist er für Stunden wie erstarrt. Aber geistig ist er ganz klar und bekommt sein Elend mit. Neulich hat er mich angefleht, ihm Gift zu besorgen.»
    Lina sah Luises entsetzten Blick. «Natürlich habe ich das abgelehnt, was denkst du. Und vorsichtshalber habe ich auch Georg nichts von Vaters Wunsch gesagt …» Um ihren Mund spielte ein süffisantes Lächeln.
    «Lina! Was sagst du denn da über deinen Bruder!»
    «Er kann es doch gar nicht mehr abwarten. Und ich verstehe ihn sogar. Die Zeiten ändern sich so rasch, und wenn ein Geschäftsmann zögert, kann das sein Untergang sein. Georg will weg vom reinen Handel und Transport. Aber Vater mischt sich immer noch in alles ein. Er verweigert Georg und Bertram die nötigen Gelder, die sie flüssigmachen müssten, um mit den anderen mithalten zu können. Denk an die Haniels und die Stinnes, die früh auf Kohle und Eisenproduktion gesetzt haben. Wenn Georg nicht bald in die Industrie investiert, wird das große Geschäft ohne ihn gemacht.»
    Ihre direkte Art hatte Lina nicht immer Freunde eingebracht, und in ihrer eigenen Familie war ihre scharfe Zunge gefürchtet. Luise wusste, dass Lina gelernt hatte, Verstand und Witz einzusetzen, um Verletzlichkeit zu verbergen.
    «Er wird das Geschäft schon früh genug bekommen.» Luise dankte Gott dafür, dass keiner ihrer Eltern hatte lange leiden müssen. «Was sagen die Ärzte?»
    «Sie können nichts für Vater tun. Aber wie lange es sich noch hinziehen wird, kann keiner sagen.» Lina nahm noch einen Schluck Tee, und ihr Gesicht bekam plötzlich einen
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