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Das Prometheus Mosaik - Thriller

Das Prometheus Mosaik - Thriller

Titel: Das Prometheus Mosaik - Thriller
Autoren: Timothy Stahl
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Yash in dieser Hinsicht alles Menschenmögliche tat, und war – nicht nur deshalb – nahezu blind und taub dafür. So blind und taub, wie er auch für alles andere um ihn herum war, das nicht unmittelbar mit dem zu tun hatte, worauf er sich nun konzentrierte: den klaffenden Riss in der Leber des Mannes zu nähen. Das war eines von Theos großen Talenten – sein Augenmerk ganz und gar auf eine Sache zu richten, egal, was ringsherum vor sich ging.
    Nur vor dem Tod konnte er die Augen nicht verschließen.
    Den sah er – nicht zum ersten, sondern zum vierundsiebzigsten Mal – als Schatten in einer Ecke lauern, aus der er so lange nicht wich, wie es für ihn etwas zu holen geben mochte.
    Geblieben war dieser Schatten noch nie. Jedes Mal war er bisher verschwunden. Nur nicht immer allein …
    Theo zuckte zusammen, als ihm die OP-Schwester den Schweiß abtupfte, der ihm trotz der relativen Kühle im Raum auf die Stirn getreten war. Mit der unerwarteten Berührung trat auch das Treiben um ihn herum wieder in sein Bewusstsein. Doch war es weniger hektisch als zuvor, und die erstickende Anspannung aller Anwesenden hatte sich ein wenig gelöst.
    Theo setzte den letzten Stich ins schwammige Gewebe des rechten Leberlappens und ließ sich von der Schwester Nadel und Faden aus der Hand nehmen. »Wie sieht’s aus, Yash?«, fragte er, an seinen Kollegen gewandt.
    Das unstete Piepsen des EKG-Monitors, das bis vor wenigen Sekunden noch von den gekachelten Wänden des Operationssaals widergehallt war, wurde beruhigend rhythmisch und beantwortete Theos Frage, bevor Yash es tun konnte. So beschränkte Yash sich darauf, lediglich den Daumen im blutverschmierten Latexhandschuh hochzurecken.
    Theo erwiderte Yashs erschöpftes, aber glückliches Grinsen nicht. Obwohl sie den Patienten gerettet hatten, konnte er die Erleichterung und Freude, die Yash ins Gesicht geschrieben standen, aus unerklärlichen Gründen nicht nachempfinden. Die Fähigkeit zu derlei Regungen ging ihm ab, so war es immer schon gewesen. Es schien, als fehle ihm dieses Gen; selbst Kollegen hatten ihm das schon mehrfach attestiert.
    Fast widerwillig warf Theo stattdessen einen Blick in die Ecke, so flüchtig, dass es niemandem auffiel. Mehr als dieses flüchtigen Blickes bedurfte es auch nicht.
    Die Ecke war leer, ausgefüllt nur vom weißen Neonlicht des OPs.
    Schattenlos.
***
    Ein sauber gezogener Längsstrich teilte die aufgeschlagene Seite des DIN-A5-Notizbuchs in zwei gleich große Hälften. Einen Fingerbreit unterhalb des oberen Blattrandes verlief ein ebenso gerader Querstrich, auf dem links ein mit Kugelschreiber mehrfach nachgefahrenes Plus- und rechts ein Minuszeichen standen. Der Strichliste auf der linken Tabellenseite fügte Theo Lassing jetzt einen weiteren Strich hinzu, der wie die anderen Striche genau zwei Kästchen des karierten Papiers hoch war. Damit standen auf der Plusseite nun zweiundvierzig, auf der Minusseite nach wie vor zweiunddreißig Striche. Das hieß, Theo hatte zweiundvierzig von vierundsiebzig schwer verletzten Unfallopfern, die in die Notaufnahme eingeliefert worden waren, das Leben retten können. Für die anderen zweiunddreißig war jede – oder wenigstens seine – Hilfe zu spät gekommen.
    Objektiv betrachtet kein schlechter Spielstand im Wettkampf mit dem Tod.
    Ein anderer als Theo hätte vielleicht darüber nachgesonnen, wie schön es doch wäre, niemals einen Strich in die Minushälfte der Tabelle setzen zu müssen. Ihm war dieser Gedanke nie gekommen. Er war nüchtern genug – zu nüchtern, sagten manche, seine Freundin Bine zum Beispiel -, um der Realität ins Auge zu sehen, sie zu akzeptieren. Im statistischen Vergleich mit anderen Krankenhäusern und Ärzten stand er gut da, leistete Überdurchschnittliches. Das erfüllte ihn zwar mit keinem Glücksgefühl, aber es beruhigte seinen angeborenen Drang, immer und überall nach Besserem zu streben.
    Eine Hand griff nach Theos Schulter. Yash hatte sich hinter ihn geschlichen und linste auf das kleine Notizbuch.
    »Wie lange willst du das eigentlich noch machen?«, fragte der Inder.
    »Was meinst du?«, entgegnete Theo.
    »Na, deine komische Strichliste.«
    Theo zuckte mit den Schultern und legte das Büchlein in seinen offen stehenden Spind. Dann zog er den Arztkittel aus und streifte ein Sakko über. Mit einem Blick musterte er sich kurz und eingehend im Spiegel an der Innenseite der schmalen Spindtür. Nicht nur an anstrengenden Tagen wirkte er älter, als er es mit seinen
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