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Das peinlichste Jahr meines Lebens

Das peinlichste Jahr meines Lebens

Titel: Das peinlichste Jahr meines Lebens
Autoren: Mark Lowery
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etwas nicht stimmt. Ich meine, wer zieht schon am helllichten Tag die Vorhänge zu? Mörder? Gangster? Die Anhänger finsterer Kulte?
    Wie sich herausstellte, war die Wahrheit noch weitaus schlimmer.
    Der absolut schlimmste Moment meines ganzen Lebens (zumindest bis dahin)
    Eine einfache Beschreibung unseres Hauses: Durch die Haustür gelangt man in den Hausflur, von dem drei Türen abgehen. Eine befindet sich am Ende des Flurs. Sie führt ins Esszimmer. Die Tür auf der linken Seite führt in die kleine Toilette unter der Treppe. Die ist mir lieber als die andere Toilette im Haus, weil sie nicht von Ste benutzt wird. Das bedeutet, dass neben dem Waschbecken nicht massenhaft Haargel steht, auf dem Teppich keine Kleckse der Schminke kleben, mit der er seine Pickel verbirgt, und der Abfluss nicht mit abgeschnittenen Barthaaren verstopft ist. Auf der rechten Seite des Flurs führt eine Tür in unser Wohnzimmer, die immer, absolut immer offensteht.
    An diesem Tag war die Tür geschlossen.
    Auch das deutete darauf hin, dass nicht alles in Ordnung war. Wäre ich nicht vollauf mit dem Gedanken beschäftigt gewesen, dass Ste mit Lucy King rumknutschte, hätte ich gemerkt, dass hier irgendwas überhaupt nicht stimmte.
    »Kann ich mir das Buch jetzt anschauen?«, fragte Paul, der bereits seine Schuhe von sich schleuderte und auf dem Weg nach oben jeweils drei Stufen auf einmal nahm. [14]
    Ich betrachtete die geschlossene Wohnzimmertür. Von drinnen hörte ich gedämpfte Stimmen. Mit verwundertem Stirnrunzeln öffnete ich die Tür.
    Auf das, was ich zu sehen bekam, war ich nicht vorbereitet.
    Im Wohnzimmer waren meine Eltern. Mum saß. Dad stand und goss ihr aus einer Teekanne eine Tasse Tee ein.
    Beide waren nackt
.
    Nackt.
    Nackt. Unbekleidet. Splitterfasernackt. Alles zu sehen. Ganz rosig und rundlich und nackt wie zwei Weihnachtsgänse. Alles, was baumeln konnte, baumelte. Alles, was wackeln konnte, wackelte. Überall sprossen Haarbüschel. Ihre Wölbungen und schlaffen Hinterteile wabbelten, während die beiden mich mit offenem Mund anstarrten. Dads Speckbauch und die Teekanne versperrten mir zum Glück den Blick auf Mums Ihr-wisst-schon-was.
    Es war ekelhaft. Abstoßend. Unheimlich. Einfach schrecklich. Ich hatte die beiden noch nie unbekleidet gesehen. Sie sahen aus wie zwei schlecht rasierte Schimpansen. Mir wird schon übel, wenn ich ihre Unterwäsche an der Leine hängen sehe. Aber das hier war grotesk. Ich dachte, mir platzt der Schädel.
    Es plätscherte.
    Der Tee in Mums Tasse lief über. Als Dad sich den kochend heißen Tee auf den Fuß goss, stieß er einen Schrei aus und sprang zurück, sodass alles überall wackelte. Da sah ich, dass er Socken trug. Auch wenn man alles andere in Betracht zog, kam mir das dennoch äußerst bizarr vor.
    »Michael, ich kann das erklären«, sagte Mum und stand auf.
    Ich kann euch versichern, dass ich das nicht sehen wollte. Das gab mir den letzten Rest. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie reden oder sich bewegen würde, und ich wollte auf keinen Fall das sehen, was mir in diesem Moment in die Augen sprang. Irgendwie hoffte ich, die beiden wären nicht wirklich meine Mum und mein Dad, sondern bloß zwei Wachsfiguren, die man noch nicht angezogen hatte.
    Von da an verschwimmt in meiner Erinnerung alles. Ich weiß noch, dass sie einen Schritt auf mich zukam. Dass mein Mund auf einmal ganz trocken war. Dass ich mir die Augen zuhielt. Dass ich schreien wollte, es aber nicht konnte. Dass ich nach oben rannte. Mums Schritte hinter mir. Dass ich keuchend in mein Zimmer wankte. Dass Paul die Bilder in meinem Erwachsenwerd-Buch begaffte. Dass ich flach auf den Boden fiel.
    Und alles schwarz wurde.
    Miss O’Malley kehrt zurück
    Vor ein paar Minuten ist Miss O’Malley reingekommen, doch ich habe sie nicht sofort begrüßt. Ich war noch mitten im Schreiben und wollte nicht aufhören. Es schien mir wichtig, erst noch alles aufzuschreiben, was passiert war.
    Als ich bei diesem Abschnitt den letzten Punkt gesetzt hatte, drehte ich mich schließlich um. Miss O’Malley wirkte aufgeregt. Sie sagte, ich sei ein echter Glückspilz; morgen würde ein Besucher zu unserer Sitzung kommen. Ich fragte sie, wer das sei, aber sie pfiff bloß auf eine Das-wüsstest-du-wohl-gern-aber-ich-sag’s-dir-nicht-weil’s-eine-Überraschung-ist-und-ich-alles-verdürbe-wenn-ich’s-dir-jetzt-schon-erzählte-und-deshalb-musst-du-noch-warten-Art.
    Das gefiel mir ganz und gar nicht. Zunächst mal traute ich ihrem
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