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Das Orakel der Seherin

Das Orakel der Seherin

Titel: Das Orakel der Seherin
Autoren: Christopher Pike
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schon geschlossen.
    Doch mein Inneres ist noch immer aufgewühlt. Als ich mich aufsetze, erkenne ich, daß Kalika immer schwächer wird. Sie legt sich auf den Rücken. Die riesige Wunde in ihrer Brust ist noch immer unverschlossen, und ich fürchte fast, daß ich ihr Herz in ihr schlagen sehe – sehe, wie es langsamer wird und schwächer.
    Ich versuche, eine Vene an meinem Arm zu öffnen und mein Blut auf ihre Wunde tropfen zu lassen, aber sie hindert mich daran.
    »Es ist zu spät.«
    Ich weiß, daß ich ihren Tod nicht ertragen kann.
    »Nein«, murmele ich.
    »Ich wollte dem Kind nichts tun. Ich wollte es nur vor den Setianen beschützen.«
    »Aus diesem Grund bist du auf diese Welt gekommen?«
    »Ja.« Sie hebt die linke Hand und berührt mein Haar. »Und weil ich deine Tochter sein wollte.«
    Die Tränen, die ich weine, sind blutrot. Sie werden Spuren auf meiner Haut hinterlassen, die irgendwann vergehen, doch ich weiß, daß ich diesen Verlust niemals verwinden werde. Ich möchte mein Gesicht auf ihre Brust legen, aber ich möchte ihr nicht weh tun. So nehme ich die Hand, mit der sie sanft über mein Gesicht streicht, und küsse sie.
    »Ich hätte auf dich hören sollen«, sage ich.
    »Ja.«
    »Du hast den Polizisten nichts getan, oder?«
    »Nein.«
    »Und du wußtest, daß Eric schwerkrank war?«
    »Ja. Er hätte entsetzlich gelitten, wenn ich ihn nicht getötet hätte.«
    Meine Stimme klingt erstickt: »Du hättest es mir sagen sollen.«
    Das scheint sie zu amüsieren. »Du hörst nur das, was du hören willst. Darin bist du menschlicher, als du denkst. Doch diese Schwäche ist gleichzeitig deine Stärke. Krishna liebt alles Menschliche.«
    »Wer ist das Kind, Kalika? Ist es Krishna? Ist es Christus?«
    Ihre Stimme klingt schwach, ihr Blick scheint in weite Ferne zu schweifen.
    »Es ist wie ich, die Essenz aller Dinge. Ein Name oder ein Titel können es nicht beschreiben. Unterscheidungen sind allein für die Menschen wichtig. Gott kennt nur ein Wesen.«
    »Braucht das Kind meine Hilfe, um zu überleben?«
    Es dauert lange, bis sie antwortet. Ihr Blick ist auf die Decke gerichtet.
    »Du wirst ihm helfen. Aus diesem Grund wurdest du geboren.«
    Wildes Schluchzen schüttelt meinen Körper. »Du hast mich die ganze Zeit über nicht angelogen.«
    Meine Worte veranlassen sie, mich anzusehen. »Einmal habe ich es getan. Es war, als ich dir sagte, ich würde nicht dulden, daß du mir auf meinem Weg zu dem Kind im Wege stehst.« Ein Krampf bringt sie zum Verstummen. Ich höre ihr Herz stolpern, als sie zu sterben beginnt. »Ich hätte dich nie verletzen können, Sita.«
    »Wie kann ich Ory aufhalten?«
    »Deine alten Waffen, Stärke und Klugheit, werden diesmal nicht genügen.«
    »Aber was wird dann genügen?«
    »Glaube ist stärker als Stein«, flüstert sie.
    »Die Schrift.« Ich bin verwirrt. »Aber sie sprach gegen dich.«
    Ein Lächeln gleitet über ihr Gesicht. »Einige Teile der Schrift stammen von Suzama. Andere von Ory, dem es gelungen ist, sie zu fälschen.«
    »Der Papyrus, in dem etwas über dich stand, war aus anderem Material.«
    »Ja. Du darfst nicht alles glauben, was du liest, auch dann nicht, wenn es angeblich aus einer heiligen Schrift stammt.« Ein Schüttelkrampf fährt durch ihre Glieder, und sie versteift sich so, daß sich ihr Oberkörper ein Stück aufbäumt. Meine Tränen über ihre Qual sind wie ein Fluß. Fünftausend Jahre Leben und Tod haben nicht ausgereicht, um mich auf das hier vorzubereiten. Zu sehen, wie meine Tochter stirbt, meinetwegen stirbt, ist eine grauenvolle Ironie des Schicksals. Und dann zieht Kalika, die schwächer und schwächer wird, noch einmal meine Hand an ihre Lippen und küßt meine Finger. »Worte allein können den Glauben nicht anregen. Nur Liebe kann das Maya zerstören.«
    »Ist das hier für dich alles nur eine Illusion? Auch dein eigener Tod?«
    Sie drückt meine Hand, und ihre Augen leuchten.
    »Du bist keine Illusion. Und ich bin wirklich deine Tochter.«
    Ein Seufzer entgleitet ihren Lippen, und sie schließt die Augen. Ich höre, wie ihr Herz aufhört zu schlagen, doch in ihren Lungen ist noch ein Rest Luft, und so sagt sie zu mir: »Ich liebe dich, Mutter.«
    Das sind ihre letzten Worte.
    Damit ist sie gegangen – gegangen zu dem Abgrund, aus dem sie gekommen ist.
    Am Strand unterhalb Paulas Haus wartet ein weiterer Tod, ein weiterer Abschied auf mich. Dort finde ich Dr. Seter gegen die Hauswand gelehnt, und seine Haut hat das typische Blau der
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