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Das Niebelungenlied

Das Niebelungenlied

Titel: Das Niebelungenlied
Autoren: Manfred Bierwisch
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durchgesetzt. Es gilt als sicher, daß der Dichter von 1200 diese Ältere Not gekannt hat, es läßt sich vermuten, welche anderen Fassungen des Stoffes er benutzt haben mag. Diese ganze Vorgeschichte erklärt, daß die Absichten und Impulse seiner Vorgänger in seiner Leistung wirksam bleiben mußten.
    Denn gewiß hat er die beiden Zweige der Nibelungensage zusammengefaßt, hat sie formal und inhaltlich zu einer Einheit verbunden. Er hat die Darstellung der Ereignisse dem höfischen Geist angepaßt, sie verfeinert, und viele dekorative Füllungen erfunden, die die Fabel nach den Wünschen seines Publikums reicher und prächtiger entfalteten. Aber er hat sich nicht gänzlich von der Eigenschwere undBezogenheit des einmal vorliegenden Stoffes frei machen können, ganz verschiedene Zeitschichten stehen in seinem Werk nebeneinander. Höfisch ist zum Beispiel das Zeremoniell des Empfangs und der Begrüßung in den feinsten Abstufungen, zum höfischen Leben gehören das große Ereignis des Festes, des Turniers, der Frauendienst. Aus den alten Zeiten aber ist die absolute Ausprägung der Gefolgschaftsidee geblieben, die Vorstellung, daß der König der Erste unter Gleichen sei und ihren Einspruch beachtet, Einzelheiten wie die unsinnige Reizrede, mit der sich die Helden in den Kampf ärgern, auch das wild Märchenhafte und Übermenschliche der Gestalten Siegfrieds und der Brünhild, sosehr der letzte Dichter auch bemüht ist, das Unglaubwürdigste zurückzudrängen. Von der einmal vorhandenen und nun nicht mehr umgehbaren Überlieferung sind die meisten sachlichen Widersprüche und Unstimmigkeiten erzwungen worden, wie etwa die angedeutete Bekanntschaft von Siegfried und Brünhild aus früherer Zeit, Dancwarts Behauptung am Hunnenhof, er sei ein Kind gewesen, als man Siegfried ermordete, der rätselhafte zweite Eckewart auf der hunnischen Grenze, und vieles andere. Es ist nicht einmal vorstellbar, daß bei der Überquerung der Donau eintausendundsechzig Ritter und neuntausend Knechte mit einer einzigen Fähre befördert werden in einer Zeit, die sie über eine sehr breite Brücke gebraucht hätten, und die Fähre läßt sich mit wenigen Schwertschlägen zertrümmern. Jedoch das Ansehen eines Königs in der mittelhochdeutschen Zeit verlangte ein solches Gefolge: Und nun war doch die kleine Schar des alten Burgundenliedes wirklich in einem einzigen Boot hinübergekommen. Der Zwang des Überlieferten hat sich gewiß oftmals wider das bessere Wissen des Dichters durchgesetzt.
    Als Widerspruch erscheint auch die ganze Fabel, wennsie nach sechs Jahrhunderten neu erzählt wird, denn die germanische Vorstellung eines unerbittlich vorbestimmten Schicksals ist einer christlich gewordenen Welt nicht mehr verbindlich; die alte Geschichte von Betrug, Verrat und Meuchelmord wird erzählt in einer Gegenwart, die sich in solchen Handlungen nicht erkennen möchte. Mit dem Raubmord wird aber die Geschichte überhaupt erst auf die Beine gebracht, und die darauffolgende Rache hält sie am Gehen. Der Dichter muß die Mörder sofort nach der Tat wieder edle und tugendhafte Ritter nennen, obwohl er den sterbenden Siegfried unwidersprochen hat sagen lassen müssen, sie seien nun mit Schimpf und Schande ausgestoßen aus der edlen Ritterschaft. Es ist eine wunderliche Annahme, daß der vornehme Zuhörer des 13. Jahrhunderts diesen Widerspruch sollte unbeachtet haben hingehen lassen. Wir müssen aber hierfür wie auch für die immer bedenklichere Verkettung unglückseliger Umstände bis zu dem Massengemetzel am Schluß das einmal vorgeschriebene Schema der Handlung anerkennen, das unausweichlich befolgt werden mußte, die Burgunden mußten untergehen; so, in dieser isolierten Weise, wird auch der Zuhörer die einzelnen Anlässe der Dichtung aufgenommen haben. Es mag sein, daß dieser Zwang der Fabel dem Dichter seine sonderbare Unparteilichkeit aufnötigte. Gewiß drängt er Brünhild nach den notwendigen Auftritten in den Hintergrund, obwohl er ihr zumindest die Anerkennung der erlittenen Beleidigung, der Täuschung, hätte zubilligen können; seine Verehrung für Kriemhild ist offenbar. Im übrigen jedoch, wenn Kriemhild ihr zugestandenes Recht fordert, dürfen die Burgunden (Raubmörder, Diebe, Meineidige) als edle Ritter ärgerlich aufgebracht sein. Da die Tat Kriemhilds wie die Schuld der Burgunden auf dieselbe Norm sittlichen Verhaltens bezogen werden müssen, wirkt die Übereinstimmungder Beurteilung verblüffend. Es geht dem Dichter ja aber
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