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Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Das Mädchen aus dem Meer: Roman

Titel: Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Autoren: Rebecca Hohlbein
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Karren vorangeeilt und hatte Bericht erstattet. Unsere Lehrmeister, Moijo und Carthun, sowie unsere Mutter, der Körpermeister und mehrere Knechte und Mägde warteten bereits am Tor, als wir eintrafen.
    Wieder brach Hektik aus. Sora und ich wurden vom Karren gehoben und ins Ruhehaus verfrachtet – in den Anbau, in dem sich der Körpermeister und seine Novizen aufhalten und in dem man sich mit seiner fachkundigen Unterstützung erholt, wenn man kränkelt oder sich verletzt hat. Hommijr, der Meister, leuchtete uns beiden mit einer Lampe in Augen und Ohren, forderte uns auf, auf einem Bein zu stehen und stellte eine Reihe von Fragen, die ich nicht beantworten konnte; ebenso wenig, wie ich in der Lage war, auf einem Bein zu stehen, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.
    Er verabreichte mir eine Medizin und wies mir ein Bett in einem der Ruhezimmer zu, in das ein Novize mich trug, während er selbst sich erneut (und dieses Mal viel eingehender) mit den Ohren meines Bruders befasste. Besonders mit dem linken, das noch immer blutete. Aber selbst unser Körpermeister mit seinen herausragenden Kenntnissen und Fähigkeiten konnte meinem Bruder nicht helfen. Sein linkes Ohr blieb für immer taub.
    Im Ruhezimmer schlief ich sehr schnell ein – vermutlich hatte Hommijr mir ein Schlafmittel verabreicht. Ich erwachte erst am nächsten Morgen und fühlte mich erstaunlich ausgeruht und gut. Sämtliche Schmerzen waren verschwunden, und im ersten Moment verstand ich gar nicht, wieso ich nicht in meinem eigenen Zimmer erwachte. Erst das Pfeifen in meinen Ohren erinnerte mich wieder daran, was geschehen war – zumindest an den Teil, den ich mitbekommen hatte.
    Aber das, woran ich mich erinnerte, reichte aus, um mir eines unmissverständlich klarzumachen: Ich steckte ganz schön in der Klemme. Wir hatten unser Zuhause ohne Erlaubnis verlassen, und dieser Frevel würde nicht ungesühnt bleiben. Ich fürchtete mich vor dem ersten Zusammentreffen mit meinem Vater. Und zwar so sehr, dass ich einen Moment mit dem Gedanken spielte, aus dem Fenster zu klettern, mich davonzuschleichen und den verbotenen Weg noch einmal zurückzulegen, um nie wieder zurückzukehren.
    Der Novize, der auf einem Schemel an der Tür wachte, machte mir übrigens einen Strich durch die Rechnung, ehe ich den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte. Kaum hatte ich die Lider geöffnet, bedeutete er Hommijr im Nebenraum mit einem Wink, dass er kommen sollte, und der untersuchte mich noch einmal und erkundigte sich erst danach nach meinem Befinden.
    »Meine Ohren pfeifen«, antwortete ich kleinlaut.
    Er seufzte. »Sei froh, dass du überhaupt noch etwas hörst, Mädchen«, sagte er und scheuchte mich mit einem Klaps auf den Hintern aus dem Zimmer. »Und nun scher dich fort und genieße, dass du die Worte deines Vaters noch verstehen kannst.« Ein Knecht führte mich in den Thronsaal, und allein schon der Ort, den mein Vater für unser erstes Zusammentreffen nach unserem Ausbruch gewählt hatte, ließ Böses erahnen. Er ist immerhin mein Vater, weißt du, und meine Eltern und ich begegneten einander zumeist in unseren privaten Gemächern, im Speisesaal und in den Gärten. Wenn überhaupt, denn auch vor meinem siebten Sommer kümmerten sich zumeist andere Leute um mich. Allen voran eine Amme.
    Jedenfalls wurde der Thronsaal normalerweise nur für mehr oder weniger offizielle Angelegenheiten genutzt. Für politische und geschäftliche Verhandlungen, Kundgebungen vor den Volksboten, gesellschaftliche Anlässe – und für Richtsprüche auf höchster Ebene. Jetzt fühlte ich mich wie ein Verbrecher, der in den Thronsaal geleitet wurde, um sich von ein paar Gliedmaßen zu trennen; zumindest auf dem Papier, denn die Vollstreckungen der Urteile fanden zum Glück an einem anderen Ort außerhalb des Palasts statt.
    Aber wirklich besser machte das die Sache für mich nicht. Meine Knie zitterten, Hitzewallungen erfassten mich, und meine Kehle fühlte sich an, als hätte ich versucht, einen Kieselstein zu verschlucken, der in der Speiseröhre stecken geblieben war und sich weder gänzlich schlucken noch wieder herauswürgen ließ.
    Sora war schon da. Er stand meinem Vater, der auf seinem Thron am Kopf des Saals wartete, direkt gegenüber, bedachte mich mit einem ängstlich flackernden Schulterblick und ließ mich auf diese Weise wissen, dass es ihm nicht besser ging als mir. Seine Haut wirkte fahl und leblos. Sein linkes Ohr war dick gepolstert; ein Verband, der um seinen Kopf
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