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Das Lied der Dunkelheit

Das Lied der Dunkelheit

Titel: Das Lied der Dunkelheit
Autoren: Peter V. Brett
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die Leute eher ihm den Rock abbürsten oder die Türen aufhalten, wenn er des Weges kam, als dass sie vor ihm ausspuckten.
    Jeder in Tibbets Bach schuftete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und konnte sich trotzdem nur das Allernotwendigste leisten. Allein Rusco und seine Töchter hatten immer runde Wangen, dicke Bäuche und saubere neue Kleider. Arlen
selbst musste sich in eine Decke wickeln, wenn seine Mutter seine Latzhosen wusch.
    Ragen und Arlen banden die Maultiere vor dem Laden fest und betraten das Geschäft. Der Schankraum war leer. Normalerweise roch es in dem Lokal penetrant nach gebratenem Speck, doch heute wehten keine Kochdünste aus der Küche herüber.
    Arlen stürmte vor dem Kurier in die Schänke. Dort hatte Rusco eine kleine bronzene Klingel installiert, ein Mitbringsel aus seiner früheren Heimat, den Freien Städten. Arlen liebte diese Klingel. Er klatschte mit der Handfläche darauf und grinste, als das helle, reine Signal ertönte.
    Aus dem hinteren Bereich hörte man Lärm, und dann trat Rusco durch die Vorhänge, die den rückwärtigen Teil der Schänke begrenzten. Er war ein massiger Mann, trotz seiner sechzig Jahre immer noch stark und mit einem geraden Rücken, doch über dem Hosengurt hing eine schwabbelige Wampe, und die tief gefurchte Stirn ging in eine Halbglatze über. Sein verbliebenes Haar war grau wie Eisen. Er trug helle Hosen und Lederschuhe; die Ärmel des sauberen weißen Baumwollhemds waren bis zur Mitte der feisten Oberarme hochgekrempelt. Die weiße Schürze war fleckenlos, wie immer.
    »Arlen, mein Junge«, grüßte er lächelnd, als er den Knaben erblickte. »Bist du nur gekommen, um mit der Glocke zu spielen, oder hast du ein bestimmtes Anliegen?«
    »Ich habe ein bestimmtes Anliegen«, mischte sich Ragen ein und trat vor. »Bist du Rusco Vielfraß?«
    »Rusco genügt«, erwiderte der Mann. »›Vielfraß‹ nennen mich zwar alle hier im Ort, aber auch nur hinter meinem Rücken. Sie können es nicht ertragen, wenn jemand mit seinem Geschäft Erfolg hat.«
    »Das ist jetzt schon das zweite Mal«, brummte Ragen wie im Selbstgespräch.

    »Wie bitte?«, fragte Rusco.
    »Es ist schon das zweite Mal, dass Graigs Reisejournal mich falsch informiert hat«, erklärte Ragen. »Als ich heute früh Selia ansprach, nannte ich sie ›unfruchtbar‹.«
    »Ha!« Rusco lachte. »Das hast du gewagt! Nun, darauf gebe ich einen aus. Wie, sagtest du, ist dein Name?«
    »Ich heiße Ragen«, antwortete der Kurier, ließ den schweren Beutel, den er mitgeschleppt hatte, auf den Boden plumpsen und setzte sich an die Theke. Rusco öffnete den Zapfhahn eines Fasses und nahm einen geriffelten Holzkrug von einem Haken.
    Das Bier war dick und honigfarben, und eine weiße Schaumkrone wölbte sich über dem Krug auf. Rusco füllte einen Krug für Ragen und einen für sich selbst. Nach einem Blick auf Arlen zapfte er Bier in einen kleinen Becher. »Setz dich damit an einen Tisch und lass uns Erwachsene am Tresen sprechen«, bestimmte er. »Und wenn du schlau bist, dann erzählst du deiner Mam nicht, dass ich dir Bier gegeben habe.«
    Arlen strahlte über das ganze Gesicht und flitzte mit seiner Beute davon, ehe Rusco es sich vielleicht doch noch anders überlegte. Gelegentlich, an Festtagen, durfte er einen Schluck Bier aus dem Krug seines Vaters trinken, aber noch nie hatte er einen eigenen Becher mit Bier bekommen.
    »Ich fing schon an mir Sorgen zu machen, es würde überhaupt niemand mehr kommen«, hörte er Rusco zu dem Kurier sagen.
    »Letzten Herbst, kurz bevor er aufbrechen sollte, fing Graig sich eine Erkältung ein«, erzählte Ragen, der in tiefen Zügen das Bier schlürfte. »Die Kräutersammlerin, die ihn behandelte, riet ihm, die Reise aufzuschieben, bis es ihm besser ginge, doch dann wurde es Winter, und sein Zustand verschlechterte sich immer mehr. Am Ende bat er mich, seine Tour zu übernehmen, bis die Gilde einen Ersatz für ihn fände. Ich musste ohnehin
eine Karawane mit Salz nach Angiers begleiten, deshalb nahm ich noch einen zusätzlichen Karren mit und machte den Umweg hierher, ehe ich wieder nach Norden zurückkehre.«
    Rusco schnappte sich Ragens Krug und füllte ihn ein zweites Mal. »Auf Graig«, rief er. »Er war ein ausgezeichneter Kurier und ein Meister im Feilschen!«
    Ragen nickte, die beiden Männer stießen mit den Krügen an und tranken.
    »Noch ein Bier?«, fragte Rusco, als Ragen seinen Krug auf die Theke knallte.
    »Graig schrieb in seinem Journal, du seist auch
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