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Das Lied der Dunkelheit

Das Lied der Dunkelheit

Titel: Das Lied der Dunkelheit
Autoren: Peter V. Brett
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lange graue Haar war zu einem straffen Knoten gezwirbelt, und ihr Umschlagtuch trug sie wie ein Statussymbol, das ihr Amt kennzeichnete. Mit ihr war nicht gut Kirschen essen, wie Arlen mehr als einmal erfahren hatte, wenn sie mit dem Stock auf ihn eindrosch, doch heute empfand er ihre Anwesenheit als
tröstlich. Mit Selia ging es ihm wie mit seinem Vater - bei beiden fühlte er sich sicher und geborgen.
    Obwohl Selia keine eigenen Kinder hatte, verhielt sie sich jedem Einwohner von Tibbets Bach gegenüber wie eine Mutter. Nur wenige reichten an ihre Weisheit heran, und ihre Sturheit war nahezu unübertroffen. Wenn Selia einem wohlgesonnen war, dann konnte einem nicht mehr viel passieren.
    »Gut, dass du gekommen bist, Jeph«, wandte sich Selia an Arlens Vater. »Und es ist schön, dass du Silvy und den jungen Arlen mitgebracht hast«, fuhr sie fort, mit dem Kinn auf Arlen und seine Mutter deutend. »Wir können jede Unterstützung gebrauchen. Sogar der Junge kann helfen.«
    Arlens Vater gab einen Grunzlaut von sich und kletterte von dem Fuhrwerk herunter. »Ich habe mein Werkzeug dabei«, erklärte er. »Sag mir nur, wo wir mit anpacken können.«
    Arlen klaubte das kostbare Werkzeug von der hinteren Ladefläche des Karrens. Gegenstände aus Metall gab es in Tibbets Bach kaum, und sein Vater war stolz auf seine beiden Schaufeln, die Spitzhacke und die Säge. Heute würde jedes einzelne Stück stark beansprucht werden.
    »Wie viele Tote gab es?«, erkundigte sich Jeph, obwohl es schien, als wolle er es lieber nicht wissen.
    »Siebenundzwanzig«, antwortete Selia. Silvy stieß einen erstickten Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund; in ihren Augen standen Tränen. Jeph spuckte abermals aus.
    »Hat jemand überlebt?«, fragte er.
    »Einige schon«, entgegnete Selia. »Manie«, mit ihrem Stock zeigte sie auf einen Jungen, der dastand und den Scheiterhaufen anstarrte, »ist im Dunkeln den ganzen Weg bis zu meinem Haus gerannt.«
    Silvy schnappte nach Luft. Noch nie war jemand so weit gelaufen und mit dem Leben davongekommen. »Die Siegel am
Haus von Brine Holzfäller haben den größten Teil der Nacht gehalten«, fuhr Selia fort. »Er und seine Familie konnten alles beobachten. Ein paar Leute entkamen den Horclingen und retteten sich in Brines Hütte, bis die Flammen sich ausbreiteten und auf das Dach übersprangen. Sie harrten so lange in dem brennenden Gebäude aus, bis die Balken anfingen zu bersten, und wenige Minuten vor der Morgendämmerung mussten sie ins Freie flüchten. Die Horclinge töteten Brines Frau Meena und seinen Sohn Poul, doch die anderen haben es geschafft. Ihre Verbrennungen werden heilen, und mit der Zeit werden sich die Kinder von dem Schrecken und den Blessuren erholen. Aber trotzdem …«
    Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Selbst wenn jemand einen Dämonenangriff im Wesentlichen unbeschadet überlebte, so war er noch lange nicht über den Berg. Diese Opfer siechten dahin, auch wenn man sich noch so sehr um sie bemühte. Nicht alle, ja, nicht einmal die meisten starben, aber es kam immer wieder vor. Einige brachten sich um, andere hockten oder lagen völlig unbeteiligt da und starrten ins Leere; sie verweigerten so lange jede Nahrung und jedes Getränk, bis sie still und leise in den Tod hinüberdämmerten. Man sagte, einen Dämonenangriff habe man erst dann wirklich überstanden, wenn ein Jahr und ein Tag vergangen seien.
    »Ein Dutzend Personen werden noch vermisst«, erklärte Selia, aber in ihrer Stimme schwang nur wenig Hoffnung mit.
    »Ich vermute, wir werden sie aus den Trümmern ausgraben«, meinte Jeph bitter und blickte auf die eingestürzten Hütten, aus denen immer noch Rauch aufstieg. Die Holzfäller bauten ihre Häuser meistens aus Stein, um sie gegen Feuer zu schützen, doch selbst Stein konnte brennen, wenn die Schutzsiegel versagten und genügend Flammendämonen sich an einem Ort zusammenrotteten.

    Jeph begab sich zu einer Gruppe von Männern, die unterstützt wurden von ein paar kräftigen Frauen, und half, die verkohlten Trümmer wegzuräumen und die Toten zum Scheiterhaufen zu karren. Natürlich musste man die Leichen verbrennen. Kein Mensch wollte in dem Boden begraben werden, aus dem die Dämonen Nacht für Nacht herauskrochen. Harral, der Fürsorger, der die Ärmel seiner Robe bis zu den feisten Oberarmen aufgekrempelt hatte, hob selbst jedes einzelne Opfer in das Feuer hinein, murmelte Gebete und zeichnete Schutzsiegel in die Luft, während die Flammen die
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