Das Lied der Banshee: Roman (PAN) (German Edition)
war sie irgendwann nach Mitternacht zurückgekommen.
Wenn sie erst mal wach war, würde die große Fragerunde beginnen, oder vielmehr würde sie nachbohren wie der Foltermeister eines schrägen Geheimdienstes und mich erst wieder aus ihren Fängen lassen, wenn ich ihr haarklein den Hergang meines Dates geschildert hatte. Andererseits verschlug es ihr vielleicht auch die Sprache bei meinem Anblick.
Um den Schaden erst mal selbst zu begutachten, flüchtete ich ins Bad. Offenbar war ich im Haus die Erste, die auf den Beinen war. Ich konnte nicht einmal sagen, wie spät es war, aber die Stille war mir nur recht.
Ich bot wirklich ein jämmerliches Bild im Badezimmerspiegel. Meine Hose hatte über den Knien Risse, das Shirt war ebenfalls zerfetzt und voller Schmutz. Der Dreck war sogar bis zu meiner Unterwäsche vorgedrungen, Schmutzschlieren klebten auf meiner Haut.
Vorsichtig schälte ich mich aus den Lumpen, in der Erwartung, noch mehr Blessuren an meinem Körper zu entdecken.
Doch nichts. Bis auf den einen blauen Fleck an der Rippe wirkte mein Körper unversehrt, und auch mein Gesicht sah bei näherer Betrachtung besser aus, als ich es erwartet hätte. Offenbar hatten die Kerle ganz genau gewusst, wie man anderen Schmerzen zufügte, ohne groß Spuren zu hinterlassen. Vielleicht verlorene Liebesmüh, wenn man sowieso vorhatte, jemanden umzubringen, aber jetzt kam es ihnen zugute. Ich sah echt nicht aus wie das Opfer eines brutalen Überfalls.
Rasch stellte ich mich unter die Dusche und zog den roten Vorhang zu. Während das Wasser wohltuend warm auf mich niederprasselte, schloss ich die Augen. Ein paar Minuten später schnappte ich erschrocken nach Luft und verschluckte mich prompt an dem Wasser, das mir übers Gesicht lief.
Ich hatte schon wieder gesummt. Und diesmal erkannte ich das Lied. Es war dasselbe wie aus meinem Traum. Hatte ich etwa an einer Mauer gestanden und gesungen? Ich erinnerte mich kaum noch an den Traum, außer an das Singen und an ein Gefühl der Trauer, aber ich war mir sicher, dass ich das Lied wiedererkannte. Seltsam. Was mein Unterbewusstsein da wohl verarbeitete?
Als ich mit dem Duschen fertig war, stellte ich mich erneut vor den Spiegel. Die Schrammen im Gesicht wirkten, als hätte ich mit einer Katze gekämpft und nicht mit vier brutalen Schlägern. Nicht dass ich unglücklich darüber gewesen wäre, nicht wie ein Boxer nach der zehnten Runde auszusehen, doch seltsam kam es mir schon vor.
Nachdem ich mich in mein Badetuch gewickelt und meine zerfetzten und schmutzigen Klamotten in den Mülleimer befördert hatte, kehrte ich zu meinem Zimmer zurück. Bettina schnaufte noch immer vor sich hin. Dafür zirpte mein Handy.
Wer konnte so früh schon etwas von mir wollen?
Mein Vater hatte meine Handynummer nicht, er wusste ja nicht einmal, dass ich mittlerweile ein Mobiltelefon besaß.
Vielleicht hätte ich ihn gestern besser zurückrufen sollen?
Als ich zum Handy griff, las ich: Bin auf dem Weg zu dir, was hältst du von Frühstück und einem Spaziergang durch den Tiergarten?
Thomas! Der hatte mir gerade noch gefehlt! Auch wenn ich nicht schlimm lädiert war, die Kratzer waren nicht zu übersehen. Wenn er sie an mir entdeckte, würde er sicher wissen wollen, woher sie stammten. Dann würde er sich bestimmt die Schuld an dem Zwischenfall geben, und ich bräuchte ein Brecheisen, um Thomas davon abzuhalten, mich in den nächsten Wochen nach Hause zu bringen.
Aber wäre das eigentlich schlecht?
Vielleicht würden die Schläger erneut nach mir Ausschau halten. Wenn ich Thomas von dem Angriff erzählte, würde er mich sicher zur Polizei schleifen. Doch mal ehrlich: Auch wenn ich den ganzen Zwischenfall am liebsten vergessen würde, ich musste so oder so zur Polizei. Was, wenn die Typen das nächste Mal ein anderes Mädchen angriffen und sie nicht so glimpflich davonkam wie ich?
Da Thomas bereits unterwegs war, antwortete ich ihm, dass ich schon was vorhätte, er aber mitkommen könne.
Während ich im Kleiderschrank wühlte, kam mir erneut diese Melodie in den Sinn. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, als ich mich dabei ertappte, wie ich sie schon wieder laut mitsummte.
Ich blöde Kuh, so würde ich noch Bettina wecken.
Als ich jedoch zu ihrem Bett hinüberlinste, schlief sie immer noch seelenruhig.
Biep, biep. Mein Handy piepste noch einmal. Ich bin schon unten, aber lass dir ruhig Zeit. Bis gleich, Thomas.
Ich warf mir schnell etwas zum Anziehen über, griff mir meine Tasche und
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