Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Titel: Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
Autoren: Fritz Roth
Vom Netzwerk:
einer Fülle von Quellen aller Art möglich ist, wird sichtbar, wie sehr sich die »Politik des Todes«, der Reorganisation der sozialen Strukturen folgend, mit der Zeit änderte.
    Wie wir Tod und Trauer empfinden und ausdrücken, hängt davon ab, welche Traditionen noch existieren, welche Freiheiten wir haben und welche wissenschaftlichen Theorien gerade für gültig gehalten werden. Unterschiedliche Religionen und Kulturen haben unterschiedliche Ausdrucksformen für den Umgang mit dem Tod und dem Abschiedsschmerz entwickelt. Trauerprozesse werden beeinflusst von den individuellen Lebensumständen, von der Art der Bindung zu der oder dem Verstorbenen, von der Art des Todes und auch von der Kultur, in der ein Trauernder lebt. Der französische Philosoph Jacques Derrida hat das in seinen Aporien: Sterben – auf die Grenzen der Wahrheit gefaßt sein zugespitzt so formuliert: »Die Kultur selbst, die Kultur im allgemeinen ist im wesentlichen vor allem, ja wir können sagen a priori Kultur des Todes; und infolgedessen Geschichte des Todes . Es gibt keine Kultur ohne den Kult der Vorfahren, ohne die Ritualisierung der Trauer und des Opfers, ohne Orte und Modalitäten institutionalisierter Bestattung, und wäre es selbst für die Asche einer Verbrennung.«
    Der Tod, wie wir ihn heute wahrnehmen, bekämpfen, verdrängen, ist nur noch ein dunkler Fleck in einem bunten Meer von (medizinischen wie technischen) Möglichkeiten, das Grenzen nur widerwillig, Gegebenheiten nur als vorläufig akzeptiert. Im Verhältnis zu Tod und Sterben spiegelt sich – zu allen Zeiten und in allen Kulturen – das Verhältnis zum Leben und die Frage danach, was der Mensch ist und welche Rolle er spielt im großen Ganzen. Die Pyramiden und die chinesische Tonsoldatenarmee, die Herz-Lungen-Maschine und der Friedhofszwang sind unterschiedliche Antworten auf die Frage, was der Tod bedeutet (und was, falls überhaupt etwas, danach kommt). Der Unterschied zwischen den Pyramiden und dem vorformatierten Standardgrab eines deutschen Kleinstadtfriedhofs entspricht in etwa dem Unterschied zwischen einer Sterbekultur, die den Tod als Teil des Lebens ernst nimmt, und einer Kultur, die Realität als eine Frage der Machbarkeit begreift.
    Angenommen, in einigen Hundert Jahren würden sich die Menschen ein Bild unserer Kultur machen, das auf unseren Bestattungsformen basiert: Was würden sie sehen? Aus dem gezähmten Tod wurde der verschämte Tod, über den man aus Rücksicht schweigt.
    Heute wünschen sich die Menschen ein schnelles und überraschendes Sterben, sie wollen überwältigt werden von diesem Übergang und eigentlich nicht daran beteiligt sein. Im Mittelalter dagegen galt ein bewusstes Sterben als Idealvorstellung, die Menschen wollten Gelegenheit haben, ihre Dinge zu regeln, ihren Besitz zu verteilen und von ihren Angehörigen Abschied zu nehmen. Ein überraschender Tod, wie Menschen ihn sich heute wünschen, galt als Unglück. Von einem raschen Sterben versprechen sich viele Menschen, dass ihnen seelisches und körperliches Leiden erspart bleibe. Sie wollen sich nicht mit Krankheit, Schwäche, Abhängigkeit und Vergänglichkeit beschäftigen. Sie fühlen sich gedemütigt von ihrem Körper und ihrem Geist, wenn deren Funktions- und Leistungsfähigkeit nachlässt.
    Die Angst vor einem qualvollen Sterben ignoriert die Tatsache, dass es noch nie so wirksame Methoden der Schmerztherapie gegeben hat wie heute. Auch bei schwersten Erkrankungen können die Schmerzen fast immer auf ein erträgliches Maß reduziert oder gar völlig ausgeschaltet werden. Was jedoch auch die moderne Palliativmedizin niemandem ersparen kann, ist die Konfrontation mit Schwäche und der Abschied von diesem Leben.
    Die Kultur einer noch nicht individualisierten Gesellschaft war von Tradition und Dauerhaftigkeit gekennzeichnet. Vieles gehörte weniger einem Einzelnen als der Familie, man lebte im selben Haus wie die Vorfahren und Nachkommen, benutzte dieselben Möbel wie schon die Großeltern und wie noch die Enkel. Es ist noch nicht so lange her, dass die Menschen in Mitteleuropa in eher stabile persönliche und soziale Verhältnisse eingebunden waren. Für die Mehrzahl der Menschen gab es Lebensgehäuse, in denen man sich einzurichten hatte. Ob man in diesen Lebensgehäusen glücklich war oder nicht, spielte keine große Rolle. Das Lebensende war in diese stabile, starre Welt eingebettet, das Sterben verlief gewissermaßen in den gleichen geordneten Bahnen wie das Leben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher