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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter
Autoren: Delphine de Vigan
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ein herzförmiger Kristall-Anhänger von Lalique an einem Stoffbändchen.
    Meine geliebten Töchter,
    jetzt ist es so weit. Ich bin am Ende, und ich habe keine Chance mehr. Die MRTs sind ja gut und schön, aber man muss auch auf seinen Körper hören. Ich sage nie jemandem das gesamte Ausmaß meiner Schmerzen. Der einen sage ich den einen und verschiedenen anderen die anderen.
    Ich bin sehr müde. Mein Leben ist schwer, und es kann nur schlimmer werden.
    Seit ich diesen Beschluss gefasst habe, fühle ich mich ruhig, obwohl ich den Übergang fürchte.
    Ihr seid alle beide die Menschen, die ich auf der Welt am meisten geliebt habe, und ich habe mein Bestmögliches getan, glaubt mir.
    Nehmt Eure schönen Kinder fest in den Arm.
    Lucile
    PS : Mit einer Kette ist es besser. Ihr könnt sie gegen eine andere Farbe umtauschen, aber recht bald, vor dem Ende des Schlussverkaufs, und wenn dann beide zugleich, weil es nur ein Geschenkgutschein ist.
    Ich weiß durchaus, dass Euch das weh tun wird, aber über kurz oder lang ist es unvermeidbar, und ich möchte lieber lebendig sterben.
    Ich habe diesen Brief Dutzende von Malen gelesen, auf der Suche nach einem Indiz, einem Detail, einer Botschaft, die über die Botschaft hinausginge, nach etwas, das mir entgangen sein könnte. Ich habe Luciles Diskretion wieder und wieder gelesen, diese Eleganz, die darin besteht, den Schmerz mit dem Prosaischen zu vermischen und das Wesentliche mit dem Anekdotischen. Dieser Brief sieht ihr ähnlich, und ich weiß heute, wie sehr sie uns beiden diese Fähigkeit mitgegeben hat, das Lächerliche, das Triviale zu ergreifen, in dem Versuch, sich über die Verwirrung zu erheben.
     
    In den Tagen nach der Entdeckung ihrer Leiche, als ich spürte, dass mein Körper den Schrecken noch nicht abgeleitet hatte (der Schrecken war in meinem Blut in meinen Händen in meinen Augen im unregelmäßigen Schlagen meines Herzens), dachte ich, dass Lucile mich nicht geschont hatte. Sie wusste, dass wir uns schließlich Sorgen machen würden, sie wusste, dass ich viel näher wohnte als Manon – die jetzt außerhalb von Paris wohnt –, sie wusste, dass ich den Schlüssel hatte, sie wusste, dass ich allein kommen würde. Obwohl ich es nicht wollte, hinterließ dieser Gedanke einen bitteren Nachgeschmack.
     
    Eines Morgens, etwa zwei Wochen nach ihrem Tod, rief mich die Hausmeisterin ihrer Wohnanlage an. Sie hatte einen Brief von Lucile gefunden, der an ihre Adresse zurückgeschickt worden war.
    Dieser Brief war an mich adressiert und am Tag ihres Todes abgeschickt worden.
     
    In diesem kurzen Schreiben, das ich am Montag hätte erhalten müssen, warnte mich Lucile auf ihre Weise vor ihrem Tod: Sie schickte mir einen Scheck über achttausend Euro
für [ihre] Kosten,
hoffte, es werde genug übrig bleiben, damit wir uns ein dauerhaftes Geschenk kaufen könnten, und präzisierte im Postskriptum, sie habe ihr Konto so aufgefüllt, dass alle Ausgaben bis Ende März gedeckt seien.
    Wenn ich diesen Brief erhalten hätte, hätte ich die Wahl gehabt, zu ihr zu gehen oder die Rettungskräfte hinzuschicken.
    In der Aufregung vor der Tat hatte sich Lucile in der Hausnummer geirrt.
     
    Wochenlang ging ich in einer Endlosschleife die Details, die Worte, die Situationen, die Bemerkungen, die Momente des Schweigens durch, die mich hätten alarmieren müssen, wochenlang versuchte ich eine Hierarchie der Gründe für Luciles Freitod aufzustellen, Verzweiflung, Krankheit, Müdigkeit, Lianes Tod, erzwungene Untätigkeit, Wahn, um sie dann alle zu widerlegen, wochenlang nahm ich mir alles von Anfang an vor und dann umgekehrt, wochenlang stellte ich mir wieder und wieder dieselben Fragen, die ich auch mit anderen besprach: Warum hatte sie sich das Leben genommen, als die Untersuchungsergebnisse gut waren, warum hatte sie nicht auf das MRT gewartet, für das sie einige Tage später einen Termin hatte, warum rauchte sie bis ans Ende nur eine halbe Zigarette, wenn sie es nicht mehr aushielt, statt richtig wieder mit dem Rauchen anzufangen, wenn es doch darauf hinauslief?
     
    Warum?
     
    In einem war ich mir sicher: In diesem Augenblick der Leere und der Erschöpfung, der auf die Behandlungen folgt, hätte man da sein müssen. Und gerade da hatte ich nachgelassen.
     
    Manon und ich gingen zu Luciles Psychiater, ich wollte Erklärungen. Er meinte, die Frage sei nicht, warum Lucile gerade jenen Augenblick gewählt habe, sondern eher, wie sie die ganze Zeit, all die Jahre, durchgehalten
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