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Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter
Autoren: Delphine de Vigan
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Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte und nur noch wenige Monate leben würde.
     
    Lucile war nach diesem Jahr der Therapien erschöpft und ausgelaugt. Aus administrativen Gründen musste sie wegen ihrer langwierigen Erkrankung ihren Rentenantrag einreichen. Das war ein Schock für sie, sie hatte gehofft, nach einiger Zeit wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu können.
     
    Lucile suchte im Internet nach den Rückfallstatistiken für die Klassifizierung ihres Krebses. Nur 25  Prozent der Patienten hatten die Fünfjahreszeitspanne überlebt. Ich war empört über ihr Vorgehen, erklärte ihr, wie sinnlos es war, und nahm ihr das Versprechen ab, es nicht wieder zu tun.
     
    Drei Monate nach Beendigung ihrer Therapien ließ Lucile eine erste Untersuchungsserie über sich ergehen. Ihre Freundin Marie begleitete sie zu dem Termin beim Onkologen. Lucile durfte aufatmen, die Ergebnisse waren gut.

[home]
    L ucile verbrachte ganze Tage damit, die nötigen Unterlagen für die Berechnung ihrer Rente zusammenzutragen. Bei dem Handtaschenhersteller hatte sie mehrere Jahre lang schwarz gearbeitet, zudem waren ihr einige Papiere verlorengegangen. Die Fotokopien, die Wege, die Kontakte mit der Rentenkasse erschienen ihr wie ein unüberwindlicher Berg.
     
    Lucile war erschöpft, sie hatte Schmerzen im Rücken, in den Armen und Schultern, Tag für Tag nahm sie immer stärkere Schmerzmittel, ihre Beine und Hände hatten zu zittern begonnen.
    Die Krebstherapie war beendet, doch der Schmerz war geblieben, angeblich würde er mit der Zeit nachlassen. Lucile musste alle drei Monate zur Kontrolluntersuchung gehen.
     
    Lucile machte sich Sorgen wegen des Zitterns und befürchtete erste Anzeichen einer Parkinson-Erkrankung. Sie bat um entsprechende Untersuchungen, die jedoch keinen positiven Befund ergaben.
     
    Sie nahm ihre Wanderungen durch Paris wieder auf, schloss sich einer Freiwilligenorganisation an, um dort Alphabetisierungsunterricht zu geben, und nahm an den Schönheits-Kursen teil, die ein Kosmetikhersteller in ihrer Klinik anbot. Gebremst, atemlos und deprimiert, wie sie war, versuchte Lucile sich ein neues Leben zu erfinden.
     
    An einem Mittwoch um die Mittagszeit, ich saß mit meinen Kindern am Tisch, rief sie mich an.
    »Meine Mutter ist tot«,
teilte sie mir mit einer gewissen Brutalität mit, die ich schon lange als Kernstück ihres Verteidigungssystems erkannt hatte.
    Und dann begann Lucile, die nicht mehr weinte, zu weinen.
    Sie wollte auf der Stelle nach Pierremont aufbrechen, sie kam mit dem Packen nicht zu Rande, sie war so müde, sie hatte nicht die nötige Kraft.
     
    Ich sagte ihr, ich würde kommen, rief den Vater meiner Kinder an und fragte ihn, ob er sie abholen könne, er sagte zu, und ich fuhr los. Ich fand Lucile konfus und ratlos vor.
     
    Justine und Violette waren schon seit einigen Wochen in Pierremont, sie hatten Liane bis zum Ende begleitet und es ihr ermöglicht, zu Hause zu sterben, wie meine Großmutter es sich gewünscht hatte.
    Lucile rief sie in meiner Gegenwart an, aus ihren Protesten schloss ich, dass ihre Schwestern sie baten, später zu kommen, am nächsten oder übernächsten Tag. Lucile legte auf und brach wieder zusammen.
     
    Ich ging in die Küche und rief die Schwestern meiner Mutter sofort zurück. Ich weiß jetzt nicht mehr, welche von beiden mir erklärte, sie hätten Tom aus dem Heim abholen und mit ihm ins Restaurant gehen wollen, um ihm die Nachricht beizubringen. Durch das Kommen meiner Mutter werde alles schwieriger, es sei einfach kein guter Zeitpunkt. Ich sagte: Ihr habt nicht das Recht, so zu handeln.
     
    Ich half Lucile, ihre Sachen zusammenzusuchen, sie litt, rang nach Atem und war zu schwach für jedwede noch so kleine Initiative. Ich rief bei der SNCF an, um mich nach den Abfahrtszeiten der Züge zu erkundigen, und dann in Pierremont, um dort ihre Ankunftszeit mitzuteilen. Ich glaube, wir nahmen ein Taxi zur Gare de Lyon. Lucile hatte nicht mehr genug Zeit, um eine Fahrkarte zu kaufen, ich trug ihre Tasche und setzte sie in den Zug, dann suchte ich in meinen Taschen nach Geld für sie, fand aber keins, und stieg schließlich aus dem Wagen aus, in dem ich sie bleich und zitternd zurückließ.
     
    Die Trauerfeier für Liane fand Anfang Dezember statt, in der Kirche war es eisig. Ich verlas einen Text, den ich über Liane geschrieben hatte, ich war nicht die Einzige, die Texte brachten alle eine große Zuneigung zum Ausdruck und rühmten ihre Vitalität und
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