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Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman

Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman

Titel: Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
Autoren: Johannes Scharf
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begriffen. „Wenn du jetzt den Mut nicht aufbringst, hinzugehen und mit ihr zu sprechen, dann wirst du ihn niemals mehr aufbringen – jetzt oder nie, alter Junge! Oder willst du etwa vor dir selbst zum Feigling werden – und dazu auch noch zum unglücklichen?“ schalt er sich innerlich, sog die wohltuende Abendluft tief ein, als wolle er mit ihr auch den Mut und die Kraft aufnehmen, die ihm gerade abgingen. Für diesen Schritt aber brauchte er eben diese Charaktereigenschaften. Also bewegte er sich kurzentschlossen auf das Mädchen zu, das ihn noch nicht bemerkt zu haben schien, denn sie drehte verwundert den Kopf, als er sie grüßte. Der Ausdruck von Verwunderung wich jedoch sogleich einem freundlichen Lächeln, als sie in dem nächtlichen Besucher den jungen Mann erkannte, dessen Hund ihr Bruder so gerne mochte und an den sie seit ihrer ersten zufälligen Begegnung nicht bloß einmal gedacht hatte. „Ach Du bist es“, sagte sie mit ihrer honigsüßen Stimme, die Erik fast die Sinne raubte. Ob er sich neben sie setzen dürfe, es sei ja so ein schöner Abend, stammelte Erik, wobei er die rechte Hand auf einen zwischen ihr und ihm befindlichen Poller legte und sie fragend ansah. Selbstverständlich dürfe er das, das brauche er doch nicht zu fragen, wo ihr das Schiff nicht einmal gehöre, versetzte sie und strahlte.
    Zunächst saßen sie schweigend, dann jedoch entspann sich ein langes Gespräch. Als sie gerade für einen kurzen Moment innehielten und sich glücklich in die Augen blickten, ertönte von irgendwoher ein heiseres Gekicher, das dumpf von dem rings um die Back hochgeschlossenen, stählernen Schanzkleid widerhallte. Sie sahen sich um und suchten den Störenfried mit den Augen zu erfassen, dessen Gekicher nicht auszuhalten war. Und in der Tat wurden sie bald fündig. Hinter einer der beiden Ankerwinden lugte die grinsende Visage eines Jungen hervor, dessen roter Haarschopf noch in der Dunkelheit als solcher zu erkennen war. Auf dem von Sommersprossen übersäten Gesicht lag ein Ausdruck höchster Zufriedenheit, und er triumphierte, da er sich enttarnt fand: „Scarlett ist verliebt!“, um dann wieder lauthals loszukichern. Das Mädchen errötete leicht und entgegnete aufgebracht: „Mach, daß Du ins Bett kommst, Du kleines Kind! Es ist doch schon fast elf, da wird Pa nicht begeistert sein, daß Du Dich noch draußen rumtreibst!“
    „Hab schon gefragt, ob ich heut‘ ein Stündchen länger raus kann“, hielt er ihr in dem Ton altkluger Überlegenheit entgegen, und sein Grinsen wurde noch breiter.

    „Das ist ja zum Glück gleich verstrichen – und jetzt mach Dich fort, wenn sich Erwachsene unterhalten, Tommi!“ fuhr sie ihn etwas erzürnt an. Diese verhaltene Wut bemächtigte sich ihrer hauptsächlich deshalb, weil ihr die Situation zutiefst peinlich war. Sie war zwar nur leicht errötet, als ihr Bruder gerufen hatte, sie sei verliebt, doch ihr war es vorgekommen, als wäre sie bis über beide Ohren knallrot angelaufen, als habe sie gleich einer Glühbirne für jeden sichtbar geleuchtet. Außerdem fühlte sie nun, daß Thomas tatsächlich recht hatte und sie dabei war, sich mehr und mehr zu verlieben.

    Nachdem der Junge, immer noch belustigt und vergnügt kichernd, das Weite gesucht hatte und ihren Blicken entschwunden war, entschuldigte sie sich sehr verlegen bei Erik für diesen Auftritt, der die ganze Zeit über in stoischer Ruhe und Gelassenheit auf dem Poller gesessen und das Geschehen nur mit den Augen verfolgt hatte. Sie sagte, ihr Bruder sei eigentlich ganz nett, und sie habe ihn sehr lieb, er könne aber auch ein ganz schöner Plagegeist sein. Darauf erwiderte Erik lächelnd, ihm sei der Junge gleich sympathisch gewesen, und er wünsche sich manchmal auch so ein närrisches Geschwisterchen, mit dem man allen Unfug treiben könne. Man sei ja schließlich selbst mal in diesem Alter gewesen und habe damals ebenfalls nur Flausen im Kopf gehabt. Manchmal komme er sich heute noch vor wie ein Zehnjähriger, sagte er augenzwinkernd zu Scarlett, die ihm warm zulächelte und verliebt in seine klaren, blauen Augen sah, welche den ihrigen, was die Farbgebung betraf, nicht unähnlich waren.

    „Hast Du denn gar keine Geschwister?“ fragte Scarlett nichtsahnend. „Eine Schwester habe ich“, antwortete Erik, aber er verbesserte sich gleich darauf: „Hatte ich“. Er mußte schlucken und sah für einen Augenblick betrübt auf den Boden. Sie habe Amalia-Lucretia geheißen und sei eine
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