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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß
Autoren: Jules Verne
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blutüberfüllten Augen, seiner Sinne kaum mächtig, er-
    hob er schon die Hand.
    Da erschien La Stilla.
    Franz ließ das Dolchmesser auf den Teppich fallen.
    La Stilla stand auf der Estrade in vollem Licht, mit auf-
    gelöstem Haar und vorgestreckten Armen, so wunderbar
    schön in dem weißen Gewand der Angelica aus ›Orlando‹,
    genau so, wie sie sich auf der Bastion der Burg gezeigt hatte.
    Ihre auf den jungen Grafen gerichteten Blicke bohrten sich
    diesem tief in die Seele ein.
    Unmöglich konnte Franz von ihr unbemerkt bleiben,
    und doch machte La Stilla keine Bewegung, ihn anzurufen,
    — 273 —
    sie öffnete nicht einmal die Lippen, ihm ein Wort zu sagen.
    Ach, sie war wahnsinnig!
    Franz wollte schon nach der Estrade stürmen, sie in die
    Arme nehmen, von hier wegreißen.
    Da begann La Stilla zu singen. Ohne den Lehnstuhl zu
    verlassen, hatte sich der Baron von Gortz nach ihr vorge-
    beugt. Auf dem Gipfel der Verzückung saugte der Kunst-
    freund diese Töne wie einen Wohlgeruch ein, trank er sie
    wie einen Göttertrank. Genau so, wie er sich in den italie-
    nischen Theatern gezeigt, erschien er auch inmitten dieses
    Saals in vollständigster Vereinsamung, auf der Höhe des al-
    tersgrauen Wartturms, der weithin das Bergland des trans-
    silvanischen Gebiets beherrschte.
    Ja, La Stilla sang! Sie sang für ihn, nur allein für ihn!
    Es erschien wie ein Hauch, der ihr über die Lippen wehte,
    ohne daß sie diese dabei öffnete. Und doch, hatte sie auch
    die Vernunft verloren, die Künstlerseele war in ihr unbe-
    rührt geblieben!
    Auch Franz berauschte sich am Zauber dieser Stimme,
    die er seit 5 langen Jahren nicht wieder gehört hatte. Er ver-
    senkte sich in eine glühende Betrachtung dieser Frau, die er
    ja nie wiedersehen zu sollen glaubte und die jetzt vor ihm
    stand, lebend, als wäre sie durch ein Wunder vor seinen Au-
    gen wieder auferstanden!
    Was La Stilla sang, schien wie besonders ausgewählt, in
    Franzens Herz die Saiten der Erinnerung am lebhaftesten
    anzuschlagen. Oh, er erkannte ja sogleich das ergreifende
    Finale aus der tragischen Szene in ›Orlando‹, jenes Finale,
    — 274 —
    in dem die Seele der Künstlerin gebrochen war bei dem
    letzten Vers
    Innamorata, mio cuore tremante,
    Voglio morire ...
    Franz folgte Ton für Ton den ihm unvergeßlichen Wor-
    ten. Er sagte sich, daß diese jetzt nicht unterbrochen wer-
    den würden, wie das damals im San Carlo-Theater geschah!
    Nein, diesmal sollte der Schlußvers auf den Lippen La Stil-
    las nicht ersterben, wie er bei ihrer Abschiedsvorstellung er-
    storben war.
    Franz atmete kaum noch leise. Sein ganzes Leben hing
    an diesem Gesang. Noch wenige Takte und die Töne muß-
    ten in unvergleichlicher Reinheit ausklingen.
    Da begann die Stimme schwächer zu werden. Es er-
    schien, als zögerte La Stilla, als sie mit dem Ausdruck ste-
    chenden Schmerzes die Worte wiederholte:
    Voglio morire ...
    Sollte La Stilla jetzt auch auf dieser Estrade niedersinken,
    wie sie damals auf der Bühne zusammengebrochen war?
    Nein, sie fiel zwar nicht, doch der Gesang verstummte
    mit demselben Takt, mit derselben Note wie im San Carlo.
    Sie stößt einen Schrei aus – das ist der gleiche Aufschrei,
    den Franz an jenem Abend vernommen hatte.
    Und doch steht da Stilla immer noch da, regungslos, mit
    — 275 —
    dem himmlischen Blick, dem Blick, der in dem jungen Gra-
    fen alle zärtlichen Regungen seiner Seele aufwallen macht.
    Franz stürmt auf sie zu. Er will sie aus diesem Saal, aus
    diesem Schloß tragen.
    In diesem Augenblick, wo er die ganze Welt vergessen
    hat, wo er keiner Gefahr mehr denkt, die ihn und die Ge-
    liebte vernichten könnte, sieht er sich dem Baron, der eben
    aufgesprungen ist, Aug’ in Auge gegenüber.
    »Franz von Telek!« ruft Rudolph von Gortz. »Franz von
    Telek, dem es gelang, auszubrechen.«
    Doch ohne ihn einer Antwort zu würdigen, stürzt Franz
    nach der Estrade.
    »Stilla, meine geliebte Stilla«, rief er wiederholt » dich
    find’ ich hier wieder – und lebend – lebend wieder!«
    »La Stilla – lebend? Aber sicher!« fügte der Baron von
    Gortz hinzu.
    Diesen in ironischem Ton gesprochenen Worten folgte
    ein Gelächter, aus dem man herausfühlte, wie die Wut in
    dem Mann kochte.
    »Lebend?« wiederholte Rudolph von Gortz. »Nun denn,
    Franz von Telek mag versuchen, sie mir zu entreißen!«
    Franz hat die Arme nach Stilla ausgestreckt, deren Augen
    unbeweglich auf ihm haften.
    Da bückt sich Rudolph von Gortz nieder, hebt das
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