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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß
Autoren: Jules Verne
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dritten Absatz erreicht, fand sein Fuß keine
    Stufe mehr. Hier endete die Treppe vor dem obersten Raum
    oder Saal des Wartturms, über dem sich die zinnenge-
    krönte, früher mit der Hausflagge der Barone von Gortz
    geschmückte Plattform ausdehnte.
    Die Wand zur Linken des Absatzes war von einer jetzt
    geschlossenen Tür durchbrochen.
    Durch das Schlüsselloch, in dem der Schlüssel von au-
    ßen steckte, schimmerte ein heller Lichtstrahl.
    Franz horchte, konnte aber aus dem Innern des dahin-
    terliegenden Gemachs keinen Laut wahrnehmen.
    Als er durch das Schlüsselloch lugte, vermochte er nur
    die linke Seite eines sehr hell erleuchteten Raums zu über-
    sehen, dessen rechte Seite mehr im Dunkel lag.
    Nachdem er den Schlüssel geräuschlos umgedreht,
    drückte Franz auf den Griff der Tür, die sich nun vor ihm
    auftat.
    Ein geräumiger Saal nahm dieses ganze obere Stockwerk
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    des Wartturms ein. Auf seine kreisförmigen Mauern stützte
    sich ein Kastengewölbe, dessen Rippen, in der Mitte zusam-
    menlaufend, einen herabhängenden schweren Schlußstein
    bildeten. Einige altväterliche Möbel, Sessel, Schanktische,
    Lehnstühle, niedrige Schemel und dergleichen verrieten in
    ihrer Anordnung einen feinen Geschmack. An den Fens-
    tern hingen schwere Gardinen, die kein Licht von innen
    durchdringen ließen, und auf dem glatten Fußboden lag ein
    langhaariger Wollteppich ausgebreitet, der den Schall der
    Schritte dämpfte.
    Die Ausstattung dieses Saals erschien wenigstens bizarr,
    und als Franz eintrat, wurde er überrascht durch den Ge-
    gensatz des Eindrucks, den jener in heller Beleuchtung und
    in der Dunkelheit hervorbrachte.
    Rechts von der Tür verschwand der Hintergrund des gro-
    ßen Raums in vollständiger Finsternis. Links davon lag ein
    mit schwarzem Stoff bedeckter, erhöhter Auftritt, den ein
    glänzendes Licht überflutete. Letzteres entstrahlte einem
    vor der Estrade aufgestellten, aber nicht sichtbaren Apparat
    mit mächtigen Reflektoren oder Brennspiegeln.
    Etwa 10 Fuß vor dem Auftritt und von diesem durch
    eine Art Schirm in Stützhöhe der Arme getrennt, stand ein
    altmodischer Armstuhl mit sehr hoher Rückenlehne, der
    durch jenen Schirm in angenehmem Halbdunkel gehalten
    wurde.
    Neben dem Armstuhl trug ein bis tief herab bedeckter
    Tisch einen viereckigen Kasten.
    Dieser 10 bis 12 Zoll lange und etwa 5 bis 6 Zoll breite
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    Kasten, dessen mit Steinschmuck eingelegter Deckel offen
    stand, enthielt einen Metallzylinder.
    Gleich beim Betreten des Saals bemerkte Franz, daß der
    Lehnstuhl besetzt war.
    Dieser wurde in der Tat von einem sich regungslos ver-
    haltenden Mann eingenommen, der den Kopf gegen die
    Lehne des Armstuhls zurückgelegt und die Augen geschlos-
    sen hatte, während er den rechten Arm ausgestreckt hielt
    und seine Hand dem vorderen Teil des reich verzierten Kas-
    tens auflag.
    Es war Rudolph von Gortz.
    Man hätte vermuten können, daß der Baron diese letzte
    Nacht im obersten Stockwerk des Wartturms verträumen
    wollte, ehe er von dem der Zerstörung geweihten Sitze sei-
    ner Ahnen für immer schied.
    Doch nein! Das konnte nach den von Franz belausch-
    ten Äußerungen, die jener gegen Orfanik getan hatte, wohl
    nicht der Fall sein.
    Der Baron von Gortz befand sich allein in dem geräu-
    migen Zimmer, und sein Gefährte mochte, gemäß den er-
    haltenen Anweisungen, jetzt schon durch den Tunnel ent-
    wichen sein.
    Und La Stilla? Rudolph von Gortz hatte ja bestimmt ge-
    sagt, daß er sie in seinem Karpatenschloß, ehe dieses der
    vorbereiteten Explosion zum Opfer fiel, noch einmal hören
    wolle. Nur aus diesem Grund hatte er sich jedenfalls hier-
    her begeben, wohin auch sie jeden Abend kommen mochte,
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    um den grausamen Sonderling durch ihren Gesang zu be-
    rauschen.
    Doch wo war La Stilla?
    Franz sah sie nicht und hörte sie nicht.
    Das kümmerte ihn jedoch im Augenblick, wo Rudolf von
    Gortz dem jungen Grafen auf Gnade oder Ungnade verfal-
    len war, nicht weiter. Franz würde ihn schon zum Sprechen
    zu zwingen wissen. In seiner hochgradigen Aufregung trieb
    es Franz, sich auf den Mann zu werfen, den er ebenso bitter
    haßte wie er von ihm wieder gehaßt wurde, auf ihn, der ihm
    seine Stilla – die noch lebende, aber geistesgestörte, durch
    jenen zum Wahnsinn getriebene Stilla geraubt hatte, um ihn
    niederzustechen.
    Franz schlich sich hinter den Lehnstuhl; er brauchte nur
    noch einen Schritt zu tun, um den Baron zu packen, und
    mit
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