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Das Kainsmal

Titel: Das Kainsmal
Autoren: Chuck Palahniuk
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Verkaufsprofis »mentale Aufhänger«. Fragen, auf die es genau eine Antwort gibt, heißen »geschlossene Fragen«. Fragen, die einen Kunden zum Reden bringen, heißen »offene Fragen«.
    Zum Beispiel: »Wie viel haben Sie für den Flug bezahlt?« Das ist eine geschlossene Frage.
    Und der Mann nippt an seinem Whiskeybecher und schluckt. Den Blick starr nach vorn gerichtet, sagt er: »Fünfzig Dollar.«
    Ein gutes Beispiel für eine offene Frage wäre: »Wie können Sie nur mit diesen gruselig zerschundenen Händen leben?«
    Ich frage: Nur für den Hinflug?
    »Hin- und Rückflug«, sagt er, und seine vernarbte, verkrustete Hand kippt Whiskey in sein Gesicht. »Notfall-Tarif«, sagt der Cowboy.
    Ich sehe ihn an, verbiege mich auf meinem Sitz, um ihn ganz in Augenschein nehmen zu können. Mein Atem verlangsamt sich, geht schließlich im gleichen Takt wie das Heben und Senken seines Cowboy-Hemds. Diese Technik heißt »Aktives Zuhören«. Der Fremde räuspert sich, und ich warte ein wenig und räuspere mich dann ebenfalls. Das ist es, was ein guter Verkäufer unter »Pacing« versteht: sich dem Kunden anpassen.
    Ich kreuze meine Füße, rechter Knöchel auf linken, genau wie er, und sage: Ausgeschlossen. Nicht einmal Standby-Tickets sind so billig. Ich frage: Wie ist er da rangekommen?
    Er trinkt seinen Whiskey - pur - und sagt: »Als Erstes muss man dazu aus einer geschlossenen Anstalt fliehen.« Dann, sagt er, muss man quer durchs ganze Land trampen, mit nichts als Plastikschuhen und Papierklamotten, die sich hinten nicht schließen lassen. Dann einen Wimpernschlag zu spät kommen, um einen mehrfachen Kinderschänder dran hindern zu können, deine Frau zu vergewaltigen. Und deine Mutter. Aus dieser Vergewaltigung geht ein Sohn hervor, den musst du erziehen. Er sammelt eine Wagenladung alter Zähne, und nach der Highschool haut dieser durchgeknallte Junge einfach ab und schließt sich einer Sekte an, die nur nachts aktiv ist. Fährt ein halbes Hundert Mal seinen Wagen zu Schrott und tut sich mit so einer Art Pseudoprostituierten zusammen.
    Nebenbei verbreitet dein Junge eine Seuche, die Tausende von Leuten tötet, so viele, dass das Kriegsrecht verhängt wird und mächtige Regierungen ins Wanken geraten. Und am Ende stirbt dein Junge in einem ungeheuren Flammeninferno, das die ganze Welt im Fernsehen verfolgen kann.
    Er sagt: »So einfach ist das.«
    Er sagt: »Und wenn du seine Leiche für die Beerdigung abholst«, und kippt sich Whiskey in den Mund, »macht die Fluggesellschaft dir einen Sonderpreis.«
    Fünfzig Dollar, Hin- und Rückflug. Er sieht nach meinem Scotch, der auf dem Klapptisch vor mir steht. Warm. Die Eiswürfel geschmolzen. Er sagt: »Trinken Sie das noch?«
    Ich sage: Nur zu.
    So schnell kann das Leben die Richtung ändern.
    So schnell kann es geschehen, dass die Zukunft, die man morgen hat, nicht mehr die Zukunft ist, die man gestern hatte.
    Die große Frage ist: Soll ich ihn um ein Autogramm bitten? Ich verlangsame meinen Atem, um ihn dem seinen anzugleichen. Ich frage: Ob er verwandt ist mit diesem ... Rant Casey? »Werwolf Casey« - der schlimmste Patient Null in der Geschichte der Medizin? Der »Superspreader«, der das halbe Land infiziert hat? Amerikas »Küssender Killer«? Rant »Mad Dog« Casey?
    »Buster«, sagt der Mann und greift mit seiner Monsterhand nach meinem Scotch. Er sagt: »Mein Junge wurde auf den Namen Buster Landru Casey getauft. Nicht Rant. Nicht Buddy. Buster. «
    Schon verschlingen meine Augen jede verharschte Narbe an seinen Fingern. Jede Furche, jedes graue Haar. Meine Nase registriert seinen Geruch: Whiskey und Kuhscheiße. Mein Ellbogen registriert den Ärmel seines Flanellhemdes. Schon beginne ich bis ans Ende meines Lebens mit diesem Fremden zu prahlen. Ich halte jede Sekunde mit ihm fest, reiße mir jedes seiner Worte, jede seiner Gebärden unter den Nagel. Ich sage: Sie sind ...
    »Chester«, sagt er. »Ich heiße Chester Casey.« Er sitzt neben mir. Chester Casey, der Vater von Rant Casey, Amerikas wandelnder biologischer Massenvernichtungswaffe. Andy Warhol hat sich geirrt. In der Zukunft werden die Leute nicht für fünfzehn Minuten berühmt sein. Nein, in der Zukunft wird jeder neben einem sitzen, der für mindestens fünfzehn Minuten berühmt war. Typhoid Mary oder Ted Bundy oder Sharon Täte. Geschichte besteht aus nichts anderem als aus Monstern und Opfern. Und Augenzeugen.
    Und was sagt man in so einer Situation? Ich sage: Das tut mir leid. Ich sage:
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