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Das Jagdgewehr

Das Jagdgewehr

Titel: Das Jagdgewehr
Autoren: Yasushi Inoue
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Deinem Gesicht wieder der mir so wohlbekannte, sanfte Ausdruck.
    Bis dahin hatte ich mein anderes Ich noch in keiner festen Gestalt erfassen können, aber nun war es von Dir benannt worden, und ich gewöhnte mich daran, mir mein Ich als eine kleine Schlange vorzustellen. In dieser Nacht schrieb ich über diese Schlange in mein Tagebuch. Während ich dort die Worte ›kleine Schlange, kleine Schlange‹ mehrmals hintereinandersetzte, sah ich ganz deutlich, wie sie sich in einer sich verjüngenden Spirale um sich selber gewunden hatte und ihr Kopf an der Spitze scharf wie ein Bohrer zum Himmel ragte; es tröstete mich ein wenig, an mein fürchterliches und widerwärtiges Ich in einem so reinen Bild zu denken, das die Traurigkeit und Hingabe eines Frauenlebens trefflich zum Ausdruck brachte. Sogar Gott, meinte ich, würde die Gestalt einer kleinen Schlange rührend und erbarmenswert finden und Mitleid mit mir haben. Mit dieser Vorstellung wollte ich ganz unbewußt meine Lage ein wenig erleichtern. Und von dieser Nacht an schien ich eine noch größere Sünderin geworden zu sein.
    Nun, da ich Dir das alles so offen geschrieben habe, will ich Dir auch noch den Rest gestehen. Bitte, sei mir nicht böse! Es geht um jene stürmische Nacht vor dreizehn Jahren, die Nacht, in der wir uns geschworen haben, Verbrecher zu sein und alle Welt zu betrügen, damit wir unsere Liebe bewahren und nähren könnten.
    Kurz nachdem wir uns diese verwegene, irre Liebe gelobt hatten, wußten wir nicht, was wir einander noch sagen sollten. Ich lag mit dem Rücken auf dem gestärkten Bettlaken und sah schweigend zur Dunkelheit auf. Es gab in meinem ganzen Leben keine Stunde mehr, die so seltsam eindrucksvoll gewesen wäre. Ich kann freilich nicht mehr genau sagen, ob es nur fünf, sechs Minuten waren oder ob wir eine halbe oder ganze Stunde schwiegen.
    Ich fühlte mich unsagbar einsam. Ich vergaß ganz und gar, daß Du ebenso neben mir lagst, und ich war völlig in meine Einsamkeit verloren. Wir besaßen doch jetzt gewissermaßen eine vereinte Kampflinie, warum fühlte ich mich nur so hilflos und einsam, während wir doch gleichzeitig unerhört reich und glücklich waren? Du hattest Dich in jener Nacht entschlossen, alle Welt zu betrügen. Aber ich nehme an, daß Du nicht etwa beabsichtigtest, auch mich zu betrügen. Doch ich – ich nahm Dich bei meinem Gelübde nicht aus! ›So lange ich lebe, will ich Midori-san, die ganze Welt, und auch dich und mich selber betrügen – das ist mein Schicksal!‹ Dieser Gedanke flackerte wie ein Irrlicht tief auf dem Grund meines einsamen Herzens.
    Ich hätte die Bande zu Kadota, von denen ich nicht weiß, ob sie auf Liebe oder Haß beruhten, unbedingt abschneiden müssen. Mochte seine Untreue auch nur eine unbedeutende Verfehlung dargestellt haben, es überstieg meine Kraft, sie ihm zu verzeihen. Und es war mir gleichgültig, was aus mir würde und was ich dann tat. Ich fühlte mich furchtbar bedrückt und sehnte mich verzweifelt nach irgend etwas, was mir geholfen hätte, diese Qual zu ersticken.
    Aber wie unvernünftig war das! Heute, nach dreizehn Jahren ergeht es mir nicht anders.
    Lieben, geliebt werden – was für ein jammervolles Menschentun! Als ich im zweiten oder dritten Jahr in die Mädchen-Oberschule ging, wurden wir bei einer Prüfung in Englischer Grammatik nach aktiven und passiven Verbformen, also etwa ›schlagen-geschlagen werden‹, ›sehen-gesehen werden‹ gefragt. Unter vielen solchen Beispielen befand sich auch das blendende Wortpaar ›lieben-geliebt werden‹. Während nun jedes Mädchen, den Bleistift im Munde kauend, eifrig auf diese Fragen starrte, wurde mir – ein nichtsnutziger Einfall irgendeiner meiner Mitschülerinnen – von hinten heimlich ein Blatt Papier zugesteckt, auf dem ich zwei Sätze vorfand: »Möchtest du lieben? Oder möchtest du geliebt werden?« Unter die Worte »Möchtest du geliebt werden?« waren viele Kreise mit Tinte und den verschiedensten Blau- und Rotstiften geschrieben worden, während unter »Möchtest du lieben?« kein einziges Ja-Zeichen zu sehen war. Ich bildete keine Ausnahme und setzte meinen kleinen Kreis unter die Frage »Möchtest du geliebt werden?« Die Mädchen begriffen offenbar schon mit vierzehn, fünfzehn Jahren, wenn sie noch gar nicht wissen, was Liebe und Geliebtwerden bedeutet, instinktiv das Glück, geliebt zu werden.
    Aber als dann während der Prüfung das Mädchen neben mir das Papier aufnahm, schaute es nur flüchtig
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