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Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Autoren: Katherine Webb
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Toten. Die fahle Haut war aufgeplatzt und gab den Blick auf faseriges, braunes Fleisch frei. Leah schluckte schwer, und ihr wurde ein wenig schwindelig.
    »Wird die Britische Kriegsgräberfürsorge ihn denn nicht identifizieren? Warum habt ihr mich angerufen?«
    »So viele tote Soldaten werden jedes Jahr gefunden – fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig. Wir geben uns Mühe, aber wenn es keine Regimentsabzeichen, keine Erkennungsmarken oder besonderen Ausrüstungsgegenstände gibt, haben wir einfach nicht die Mittel, der Sache weiter nachzugehen«, erklärte Peter.
    »Er bekommt eine hübsche Beerdigung und ein weißes Kreuz auf sein Grab, aber sie werden eben nicht wissen, welchen Namen sie darauf schreiben sollen«, sagte Ryan.
    »Eine hübsche Beerdigung?«, wiederholte Leah. »Du bist respektlos, Ryan. Warst du schon immer.«
    »Ich weiß. Ich bin unmöglich, nicht?« Wieder grinste er fröhlich.
    »Also, wenn ihr überhaupt keine Anhaltspunkte habt, warum meint ihr dann, ich könnte euch weiterhelfen?« Leah richtete die Frage an Peter.
    »Na ja …«, begann Peter, doch Ryan schnitt ihm das Wort ab.
    »Möchtest du ihn denn nicht erst mal von Angesicht zu Angesicht kennenlernen? Er ist bemerkenswert gut erhalten – offenbar ist das hintere Ende des Gartens das ganze Jahr über durchweicht, das Grundstück endet an einem Bach. Soll sehr idyllisch sein. Komm schon – du hast doch keine Angst vor einem archäologischen Fund, oder?«
    »Ryan, warum musst du so …« Leah gab es auf und sprach den Satz nicht zu Ende. Sie strich sich das Haar hinter die Ohren, verschränkte erneut die Arme schützend vor der Brust und ging um den Tisch herum zur anderen Seite.
    Das Gesicht des Toten war ein wenig zerknittert, als hätte er es beim Schlafen fest auf ein Kissen aus grober Erde gebettet. Eine Falte verlief von einer Augenhöhle zum Mundwinkel. Seine Oberlippe beschrieb noch eine lange, elegant geschwungene Kurve, und darüber war eine Spur von Bartstoppeln zu erkennen. Die Unterlippe und die Kieferpartie hatten sich zu einer matschigen Masse zersetzt, die Leah nicht allzu genau betrachten mochte. Auch die Nase war zerfallen, platt gedrückt, gallertartig. Sie sah aus, als könnte man sie mit einer leichten Handbewegung ganz abstreifen. Doch seine Stirn und die Augenpartie waren vollkommen erhalten. Eine durchweichte Locke fiel ihm störrisch ins Gesicht. Seine Stirn war faltenfrei, vielleicht, weil er so jung gewesen war, oder weil die Haut mit Wasser vollgesogen und leicht aufgequollen war. Er musste ein attraktiver Mann gewesen sein. Sie konnte ihn beinahe vor sich sehen – wenn sie ihren Blick ein wenig verschwimmen ließ, die schrecklichen Verletzungen ausblendete, die unnatürliche Hautfarbe und den unmenschlichen Geruch. Die geschlossenen Augen des Mannes ließen winzige schwarze Wimpern erkennen, säuberlich aneinandergereiht, genau so, wie sie sein sollten. Wie sie am Tag seines Todes vor fast hundert Jahren gewesen waren. Die Lider hatten einen seidigen Schimmer wie leicht verdorbenes Fleisch. Waren sie vollständig geschlossen? Leah beugte sich hinab und runzelte die Stirn. Jetzt sah es aus, als wären sie einen Spalt weit geöffnet. Nur ein kleines bisschen. Wie bei manchen Menschen, wenn sie tief schliefen und träumten. Sie beugte sich noch weiter hinab und hörte ihren Herzschlag, der das Summen der Lichtleisten übertönte. Würde sie eine leichte Bewegung seiner Augen hinter den geschlossenen Lidern wahrnehmen? Konnte das Letzte, was er gesehen hatte, noch da sein, vorwurfsvoll auf seine Netzhaut tätowiert? Sie hielt den Atem an.
    »Buh!«, machte Ryan dicht an ihrem Ohr. Leah fuhr zusammen und schnappte hörbar nach Luft.
    »Idiot!«, fauchte sie ihn an, wandte sich abrupt ab und marschierte durch die schweren Schwingtüren nach draußen. Es ärgerte sie, wie leicht sie aus der Fassung zu bringen war.
    Mit schnellen Schritten stieg sie zwei Treppen hinauf und folgte dem Duft von Pommes frites und Kaffee zur Cafeteria der Fakultät. Als sie sich einen Pappbecher Kaffee einschenkte, stellte sie fest, dass ihre Hände zitterten. Sie ließ sich auf einen Kunststoffstuhl am Fenster sinken und starrte in die Landschaft hinaus. Flach und grau und braun, genau wie England bei ihrer Abreise. Eine ordentliche Reihe grellbunter Krokusse, die einen Fußweg säumte, hob die Eintönigkeit und Farblosigkeit der übrigen Aussicht noch hervor. Auch ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe war farblos – fahle Haut,
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